Für Jay Shultz ist die wahre Pandemie in der Welt nicht Corona, sondern die Einsamkeit. Mit seiner Initiative »Adopt a Safta«, bei der junge Neueinwanderer mit Schoa-Überlebenden zusammenkommen, will er dagegen ankämpfen. »Die Einsamkeit verletzlicher und isolierter Mitglieder unserer Gesellschaft ist durch Corona noch gewachsen.« Sein Herzenswunsch: »dass wir alle mehr dagegen tun«.
Shultz stammt aus New York, seine Frau aus London. Gemeinsam mit ihrem vierjährigen Sohn Wolf wohnen sie in Tel Aviv. »Weder unsere Eltern noch unsere Großeltern leben in Israel. Das ist zwar traurig, hat uns aber die Sorge genommen, dass wir sie anstecken könnten.« Als für den selbsterklärten Jetsetter das Reisen von einem Tag auf den anderen wegfiel, lag der Fokus im vergangenen Jahr ganz auf seiner Familie. Es sei wie »ein sehr langer Schabbat« gewesen und in gewisser Weise ein Segen. »Für mich persönlich hat sich viel Gutes ergeben – mental, emotional und spirituell.«
Darüber hinaus sieht Shultz in der Abriegelung Israels durch Corona ein Zeichen Gottes. »Für Juden aus aller Welt standen die Tore des jüdischen Staates immer offen, und auf einmal war es nicht mehr so.« Die Existenz Israels, macht er klar, sei nicht selbstverständlich. »Man soll nicht kommen und gehen, wie es einem passt, sondern ganz einwandern, mit allen Kindern und Bankkonten.« Jeder Mensch könne aus Corona seine eigene Lehre ziehen, meint er. Für die Juden aber sei die Botschaft: »Nächstes Jahr in Jerusalem. Nicht nur an Pessach, sondern auch an Rosch Haschana.«
ROUTINE Bei ihr hat sich durch Corona ein Knoten gelöst. »Ja, der Bruch der Routine hat mich endlich zu der Änderung in meinem Leben gebracht, zu der ich mich eigentlich schon lange durchringen wollte.« Tal Kaizman ist von Deutschland wieder nach Israel gezogen – nach 26 Jahren. Ihre beiden Kinder blieben zum Studium, »und das ist schwer für mich«.
Eigentlich hatte sie nur einige Monate in Israel verbringen wollen, nachdem sie durch die Pandemie ihre Jobs als Stadtführerin in Köln und als Dolmetscherin bei internationalen Messen verloren hatte und nur eine halbe Stelle bei KKL blieb. »Doch ich merkte immer mehr, dass ich hier viel glücklicher bin.« Kaizman zögerte auf einmal nicht mehr lange, nahm eine kleine Wohnung in Haifa am Meer und entschied: »Hier bleibe ich.« Das war vor acht Monaten. »Und damit war mein letztes Jahr eher spannend und herausfordernd als deprimierend.«
Für sie persönlich sei besonders der Entschleunigungsprozess bedeutsam. »Aus dem Hamsterrad bin ich heraus und stattdessen viel langsamer und achtsamer geworden. Das finde ich schön.« Auch den eingeschränkten Konsum sieht sie positiv. »Ich bin nicht gegen das Konsumieren, doch es war in unserer westlichen Welt so extrem geworden.« Sie hofft, dass nicht nur sie, sondern auch die Menschheit allgemein diese neue Bescheidenheit zu schätzen weiß. »Ich weiß aber natürlich, dass es vielen Menschen schlecht geht. Die Lage in der Welt bereitet mir große Sorgen.«
Für das neue Jahr wünscht sie sich mehr Integration in die israelische Gesellschaft. »Die Menschen hier haben sich natürlich weiterentwickelt, als ich weg war. Und ich bin wohl doch ein bisschen deutsch geworden.«
MISSION Cyrille Cohen von der Bar-Ilan-Universität hat eine Mission. Eigentlich ist er Krebsforscher sowie Direktor des Labors für Immunotherapie und hat damit genug zu tun. Seit der Pandemie ist er zudem Mitglied des Beratungskomitee im Gesundheitsministerium in Sachen Impfungen. Damit will er »gegen die Ignoranz kämpfen und Menschen helfen« – all jenen, die Fragen haben und verwirrt sind. »Ich möchte eine Balance geben, denn im Moment gibt es eine Kollision zwischen den Persönlichkeitsrechten und dem Wohlergehen der Menschen«, sagt er. »Das ist eine wirklich schwierige Situation.« Eine, die sein Leben im vergangenen Jahr bestimmte.
Die Vakzine bezeichnet er als eine Art »Wunder« (die dritte Spritze hat er sich übrigens selbst gesetzt), doch er weiß auch, dass die Situation des ständigen Aufs und Abs zu einer sozialen und psychischen Achterbahn führt. »Wir hatten im letzten Jahr eine echte Realitätsprüfung. Trotz unserer besten Hoffnungen ist die Pandemie noch da.« Er geht davon aus, dass das nächste Jahr das Jahr der Behandlungen wird. »Corona wird bleiben, und irgendwann bekommt es jeder, denn es ist überall um uns herum.«
Gleichwohl ist Cohen Optimist und will es auch bleiben. »Vor allem im Hinblick auf Rosch Haschana, denn was wir an diesem Tag tun, wird uns das gesamte Jahr begleiten.« Zum Optimismus gehört für den Gesundheitsexperten, dass man Fragen stellt – auch kritische. Er hofft, dass in einigen Monaten bis spätestens in zwei Jahren eine gewisse Routine in Sachen Corona eingetreten ist. »Es wird Höhen und Tiefen geben, aber ich denke, dass die Höhen immer länger und die Tiefen immer kürzer werden.«
WANDEL Sein Jahr sei eines des Wandels gewesen, erzählt Nevo Peleg. »Ich habe meinen Dienst in der Diplomatischen Schule der Armee beendet, der eine unglaubliche Lernerfahrung war. Es war intensiv und nicht immer einfach, doch ein Privileg. Der Dienst hat mir auch die Bedeutung von Empathie in einem Umfeld gezeigt, das dich nicht unbedingt zum Mitgefühl auffordert.« Nach der Entlassung habe er erst einmal eine Weile gebraucht, »um mich als Nevo wiederzufinden, zu erkennen, was meine Werte sind und was mich glücklich macht«.
Dazu konnte er die relative Entspanntheit der Monate vor der vierten Welle in Israel nutzen, seine Familie in den USA treffen und reisen. Bis ihn die Krankheit selbst traf. Er war vollständig geimpft und hatte einen recht leichten Verlauf von Covid-19, doch noch Wochen später leidet er unter den Langzeitfolgen wie Husten, laufender Nase und extremer Müdigkeit. »Dadurch kann ich nicht so aktiv sein, wie ich gern möchte.« Sein Wunsch für Rosch Haschana: »Gesundheit für mich und alle anderen Menschen – und dass jeder bald wieder so leben kann, wie er möchte.«
Trotz dieser Einschränkung freut er sich unbändig auf das, was kommt. »Passend zum jüdischen Neujahr gibt es bei mir viel Neues. Ich werde meinen ersten echten Job beginnen – und zwar in Paris.« Nach seinem Studium der Internationalen Beziehungen wird der 25-Jährige in den diplomatischen Dienst einsteigen. »Es ist so aufregend, denn es sind unzählige neue Möglichkeiten: die Arbeit, das fremde Land, die Kultur und Sprache.« Zum ersten Mal im Leben zieht er auch mit seinem Partner zusammen. Er ist sicher, »es werden Tage kommen, die nicht so einfach sind«. Doch: »Ich bin für alles bereit.«