Sie weiß nicht, ob sie ihn überhaupt erkennen würde. Vielleicht an seinem roten Haar. »Als er gekidnappt wurde, war er gerade acht Monate alt«, erinnert sich Ofri Bibas-Levy. »Heute ist Kfir schon ein Jahr und acht Monate und kein Baby mehr. Ich weiß nicht, was er mag, womit er gern spielt. Was er gelernt hat. Das letzte Mal, dass ich ihn gesehen habe, mochte er es sehr, gekitzelt zu werden.« Bibas-Levy ist Kfirs Tante. »Doch jetzt weiß ich gar nichts mehr. Es ist unfassbar – ein Jahr ohne sie.«
»Sie waren diese junge, glückliche Familie. Und nun sind sie weg, wie verschwunden. Wir können es einfach nicht glauben«, so Bibas-Levy. Noch weniger wollen sich die Angehörigen mit dem grausamen Schicksal abfinden. Die gesamte Bibas-Familie, Yarden und Shiri mit ihren kleinen Kindern Ariel, heute fünf Jahre, und Baby Kfir, wurden am 7. Oktober während des Massakers der Hamas aus ihrem Heimatkibbutz Nir Oz von Terroristen verschleppt.
Yarden, ihr Bruder, wird am 10. Oktober seinen zweiten Geburtstag in der Geiselhaft der Hamas in Gaza begehen. »Lange habe ich es mir herbeigesehnt, doch ich glaube nicht mehr, dass er dann hier zu Hause sein wird. Im Moment bin ich nicht zuversichtlich.« Von morgens bis abends würden sich sämtliche Gedanken darum drehen, »was wir noch tun können, in welche Richtung wir noch schreien sollen«.
Für die Geiseln stark sein
Die Mutter von drei kleinen Kindern versuche krampfhaft, die Hoffnung nicht zu verlieren. »Doch an manchen Tagen schaffe ich es kaum mehr. Dann aber denke ich wieder an Yarden, Shiri, Ariel, Kfir und alle anderen Geiseln, die dort, wo sie sind, leiden. Und weiß, ich muss für sie stark sein.«
Yifat Zailer ist die Cousine von Shiri Bibas. Sie weint, während sie spricht. Vielleicht trauert sie gerade in diesem Moment um ihre Tante und ihren Onkel Margit und Yossi Silberman. »Margit war jung, erst 63 und Yossi ein begnadeter Künstler mit feurig roten Haaren wie seine Enkelkinder Ariel und Kfir.« Beide wurden am 7. Oktober getötet, als die mordenden Horden aus Gaza ihren Kibbutz überfielen. »Ich trauere um die Geiseln«, sagt sie dann. »Ich kann nicht abschließen und mich der Trauer hingeben, wenn unsere Familien in Gaza gefangen gehalten werden.«
»Wir sind in unserer dunkelsten Stunde, in der schwersten Zeit - und bitten um Mitgefühl von der Welt.«
»Dieses eine Jahr ist so schnell vergangen und gleichzeitig scheint es wie 100 schreckliche Jahre.« Oft fühlten sich die Angehörigen, als ob es ihr »persönliches Versagen« sei, dass die Geiseln noch nicht befreit sind, gibt sie zu. Auch sie hat zwei kleine Kinder und ist doch permanent damit beschäftigt, ihre Liebsten im Bewusstsein der Öffentlichkeit zu halten. »Wir brauchen Hilfe, wir können diesen Kampf nicht allein kämpfen: Wir sind in unserer dunkelsten Stunde, in der schwersten Zeit und bitten um Mitgefühl von der Welt.«
Sie seien keine »Menschen des Krieges«, macht Zailer klar, »sondern wollen Frieden.« An die pro-palästinensischen Aktivisten gerichtet sagt sie: »Dies kann nicht der Weg sein, für eine ›Befreiung Palästinas‹ zu kämpfen. Mit der Geiselhaft von Unschuldigen, denen jedes Menschenrecht genommen wird … Das darf nicht sein.«
Die Familie weiß, dass Yarden, ihr Cousin, getrennt von seiner Familie in Gaza festgehalten wurde. Das haben freigelassene Geiseln bestätigt. In einem grausamen Propagandavideo zeigte die Hamas, wie sie Yarden Bibas sagte, dass seine Frau und die beiden Kinder durch einen Angriff der israelischen Armee ums Leben gekommen seien. »Aber wir haben keine offizielle Bestätigung, dass Shiri, Ariel und Kfir tatsächlich tot sind«, erklärt Zailer. »Leider weiß Yarden in Gaza sicher nicht, was wir wissen. Doch wir hoffen weiter, und wir kämpfen weiter.«
Seit zwölf Monaten nur mit Befreiung der Geiseln beschäftigt
Tomer Keshet, Cousin von Yarden, ist seit zwölf Monaten mit nichts anderem beschäftigt als mit der Befreiung seiner Angehörigen: »Wir treffen uns immer wieder mit Botschaftern aller Länder in Israel. Doch nichts ist geschehen. Wir haben mit den Top-Senatoren in den USA gesprochen, um Amerika dazu zu bringen, bei den Verhandlungen für einen Geiseldeal zu helfen. Doch nichts ist geschehen. Yardens Vater sprach vor den Vereinten Nationen. Doch nichts ist geschehen. Wir sind nach Katar geflogen, in die USA, nach Europa und Argentinien, woher die Bibas-Familie stammt. Doch nichts ist geschehen. Sie sind nicht hier!«
Die Menschen würden ihre Schulter anbieten, damit die Familien der Geiseln daran weinen können und immer versprechen, etwas zu tun, so Keshet. »Es ist fürchterlich zu wissen, dass wir mit all diesen einflussreichen Menschen gesprochen haben, und bisher nichts passiert ist.«
Gleichsam macht er klar, dass er nicht aufhören werde, für die Freilassung aller 100 Geiseln zu kämpfen. »Wir dürfen nicht zulassen, dass nicht mehr über sie gesprochen wird und dass die Welt das Interesse verliert. Es darf auf keinen Fall geschehen – denn das ist der Moment, an dem sie sterben.«