Vor einem Jahr wünschte sich Noy Ben-Ezer nur eines: mit ihrem Hund im Park spazieren gehen, untergehakt bei ihrer besten Freundin. »So wie immer eben.« Doch das damals 13-jährige Mädchen durfte nicht in den Park. Stattdessen mussten sie und ihre drei jüngeren Geschwister 50 Tage lang im Sicherheitsraum ihres Hauses in der Hafenstadt Aschdod ausharren, während über ihnen die Raketen flogen. Fast die gesamten großen Ferien 2014 tobte der Krieg zwischen Israel und der Hamas. Nun sind wieder Sommerferien. Und die Menschen machen sich Sorgen.
Am 8. Juli jährte sich der Beginn der Militäroperation »Protective Edge« im Gazastreifen. Auf israelischer Seite starben 73 Menschen, 67 von ihnen waren Soldaten. In Gaza sollen angeblich mehr als 2100 Bewohner getötet worden sein, die meisten von ihnen – zu diesem Schluss kommen die Vereinten Nationen – Zivilisten.
Israel indes bezichtigt die Hamas, für den Tod Unschuldiger verantwortlich zu sein, da sie aus Wohngebieten feuerte und Zivilisten als menschliche Schutzschilde missbrauchte. Die UN beschuldigt beide Seiten der Kriegsverbrechen. Ministerpräsident Benjamin Netanjahu wies dies weit von sich und veröffentlichte eine eigene Studie, die den Einsatz der Armee als militärisch notwendig und damit legitim beschreibt.
Untersuchungen Der Bericht wurde von einem Gremium zusammengestellt, das von der Regierung beauftragt war. Es resümiert, dass Jerusalem sich an internationale Gesetze gehalten und angemessen gehandelt habe. Zudem zitierte Netanjahu ein Papier hochrangiger westlicher Ex-Militärs, das Israel bescheinigt hatte, »die höchsten Standards militärischen Verhaltens sogar noch übertroffen zu haben«. Gleichwohl ordnete die Armee jetzt Untersuchungen gegen zehn Militärangehörige an, wegen des Verdachts auf Fehlverhalten im Krieg.
Rund 6600 Raketen und Mörsergranaten wurden vor und während der Operation aus dem Gazastreifen Richtung Israel gefeuert. Die Menschen in dem Areal, das an das Palästinensergebiet angrenzt, saßen wochenlang nahezu pausenlos in ihren Schutzräumen. Das Leben im Süden wurde zur Qual.
Dennoch, fasst ein Bericht des Instituts für nationale Sicherheit an der Tel Aviver Universität zusammen, habe die Bevölkerung »ein hohes Niveau an Stabilität und Funktionalität im Angesicht der Herausforderung bewiesen«. Israelis werden oft für ihre »Das-Leben-geht-weiter-Attitüde« gepriesen. Der letzte Krieg jedoch hat eine Wunde in der Psyche vieler hinterlassen, die noch frisch ist und schmerzt.
Die jüngsten Nachrichten, dass sich zwei Israelis in der Gewalt der Hamas befinden sollen, schüren die Angst von Neuem. Schließlich war der Auslöser für den vergangenen Krieg letztlich das Verschwinden der drei Teenager Eyal Yifrach, Gilad Shaar und Naftali Frenkel am 12. Juni in der Westbank gewesen. Die drei wurden zwei Wochen später von Hamas-Mitgliedern getötet aufgefunden.
Einer der Männer, die jetzt angeblich im Gazastreifen festgehalten werden sollen, ist Avera Mengistu, von der Identität des anderen ist aufgrund einer Nachrichtensperre lediglich bekannt, dass er Beduine ist. Mengistu, ein 26-jähriger Mann äthiopischer Abstammung, soll bereits vor zehn Monaten auf eigene Faust über den Zaun zum Gazastreifen geklettert und dann nicht mehr gesehen worden sein. Er gilt als mental instabil und sei schon des Öfteren verschwunden, heißt es.
Die Regierung machte klar, dass es keinen Austausch von Gefangenen der Hamas für die Freilassung der Israelis geben werde. Verteidigungsminister Mosche Yaalon sagte, dass man von der Terrororganisation die sofortige Entlassung ohne Konditionen gefordert habe. »Israel hat in den vergangenen Monaten versucht, die Rückkehr der beiden auf humanitärer Basis zu erwirken.«
Ruhe Trotz der jüngsten Berichte ist es ruhig in Israel. Zwar flogen sie bislang nur sporadisch, doch es landeten wieder Raketen auf israelischem Territorium – abgefeuert in Gaza. Viele Bewohner im Süden sind sicher, dass sich das Szenario des vergangenen Jahres wiederholen wird. Dass die Ruhe von Dauer sein wird, daran glauben die wenigsten.
Besonders in der Eschkol-Region sitzt die Furcht tief. Die Menschen hier haben rund ein Fünftel des Hamas-Beschusses abbekommen.
Von den 14.000 Einwohnern der Gegend auf der israelischen Seite des Gazastreifens befänden sich noch mehr als 2000 in dauerhafter psychologischer Betreuung, so das lokale Traumazentrum. »Für viele hier ist der Schrecken nicht vorüber«, weiß Meraw Ben Nissim vom Zentrum. »Vor dem Krieg hatten die Kinder Angst vor den Raketen und trauten sich nicht raus, jetzt wissen sie um die Tunnel der Hamas und befürchten, dass die Terroristen direkt unter ihrem Schlafzimmer graben.«
Tunnel Ein grauenvoller Gedanke. Doch für viele ist er immer noch Realität. Immer wieder melden Bewohner, dass sie unter ihren Häusern Geräusche von Grabungsarbeiten hören.
Janet Svirzensky aus dem Kibbuz Nir Yitzchak ist deswegen in großer Sorge: »Die Tunnel sind eine größere Gefahr als die Raketen. Vor denen sind wir durch das Abfangsystem geschützt. Im letzten Jahr kletterten im Nachbarkibbuz zehn Hamas-Terroristen aus einem unterirdischen Gang. Und kein Warnsystem kann uns davor schützen.«
Kibbuzniks »Wir spüren, dass es nicht normal ist«, meint die Mutter von zwei Kindern. »Wir leben in ständiger Angst und machen auch keine Pläne für den Sommer, weil wir befürchten, dass etwas passieren wird.« Die meisten ihrer Freunde wünschten sich in die 80er-Jahre zurück, als die Kibbuzniks in Gaza einkaufen gingen und man sich gegenseitig respektierte. »Die Zivilisten dort tragen keine Schuld. Ich hoffe, dass wir uns eines Tages in Frieden die Hände reichen werden.«
Das sieht auch Gadi Jarkoni so. Der Familienvater verlor am letzten Tag des Krieges bei einem direkten Raketeneinschlag zwei seiner Freunde. Außerdem mussten ihm beide Beine amputiert werden. Trotzdem denkt er nicht ans Aufgeben. Im Gegenteil: Jüngst wurde er zum Vorsitzenden des Rates der Eschkol-Region gewählt. »Ich finde, wir leben in der schönsten Gegend des Nahen Ostens. Wir sind verwundet, wir sind angeschlagen, aber wir haben nur zwei Möglichkeiten: weglaufen oder vorwärts gehen. Ich bin für Letzteres.«
Trotz seines tragischen Schicksals will Jarkoni keine Rache, sondern den Palästinensern helfen, aus den Trümmern aufzustehen. »Es gibt eine Zeit für Krieg und eine für die Ruhe – jetzt ist die für Ruhe. Wir wollen Seite an Seite leben.«
Angst Es sind die heißen Sommermonate in Israel. In diesen Ferien tollt Noy Ben-Ezer jeden Tag mit ihrem Vierbeiner im Park von Aschdod herum, direkt neben dem Springbrunnen, der für Abkühlung sorgt. »Meist denke ich nicht daran, dass etwas passieren könnte«, sagt sie und lacht dabei.
Letztens allerdings war Noys Cousine aus England zu Besuch. Abends schlenderten die Mädchen gemeinsam durch die Stadt, als es plötzlich mehrmals laut knallte. »Ich bin sofort in einen Hauseingang gerannt, habe mich an eine Wand gehockt und die Hände über den Kopf gehalten«, erzählt Noy. »Ich konnte nichts dagegen tun. Aber meine Cousine schaute mich an, als sei ich völlig verrückt.«
Dann sah die 14-jährige Israelin, dass der Vergnügungspark der Stadt ein Feuerwerk veranstaltete, und beruhigte sich schnell. Das andere Mädchen stand geschockt auf dem Bürgersteig und starrte. »Weißt du«, erklärte ihr Noy und zuckte mit den Schultern, »es ist Sommer in Israel – und dann ist immer Krieg«.