Zum ersten Mal seit Bestehen des Staates ist die Zahl der nichtjüdischen Immigranten höher als die der jüdischen. Dies hat das Zentrale Statistikbüro Israels jüngst mitgeteilt. Lediglich 39 Prozent der Neueinwanderer – Olim Chadaschim – sind im Jahr 2018 vom Oberrabbinat als jüdisch entsprechend der Halacha anerkannt worden. Im Jahr davor waren es noch 52 Prozent.
54 Prozent der 32.600 von Januar bis Dezember 2018 Eingewanderten seien »ohne Religionszugehörigkeit«, heißt es. Die verbleibenden sieben Prozent sind Christen oder Muslime. Doch die Steigerung ist kein einmaliger Zufall, sondern Trend. Laut einem Bericht des Ministeriums für die Eingliederung von Einwanderern aus dem Jahr 2014 sind die Zahlen der Nichtjuden, die nach Israel ziehen, stetig gestiegen. Die meisten von ihnen stammen aus der früheren Sowjetunion. Während es kurz nach dem Fall des Eisernen Vorhangs zwölf bis 20 Prozent waren, lag die Zahl in den späten 90er-Jahren bereits bei 40 Prozent und im ersten Jahrzehnt der 2000er bei etwa der Hälfte.
Der Bericht aus dem Statistikbüro kommt nur rund ein halbes Jahr, nachdem die ultraorthodoxen Parteien in der Regierungskoalition es geschafft hatten, die Schlussfolgerungen des Nissim-Komitees zu Konversionen in Israel ad acta legen zu lassen und eine Neuregelung zu blockieren. Der Leiter des Komitees, der frühere Minister Mosche Nissim, hatte resümiert, dass Konversionen im Land zwar nach wie vor orthodox und entsprechend der Halacha durchgeführt werden, doch nicht mehr in den Händen des ultraorthodoxen Oberrabbinats liegen sollten. Außerdem müssten Konversionen liberaler und konservativer Strömungen aus dem Ausland anerkannt werden.
Die meisten fühlen sich jüdisch, sind es nach der Halacha aber nicht.
Ein Jahr zuvor war eine Krise um die Übertritte ausgebrochen, weil ein ministeriales Komitee für Gesetzgebung einen Vorschlag annahm, der das Konversionssystem im Land hätte verrechtlichen sollen. Bislang hatte es lediglich als eine Abteilung im Büro des Premierministers existiert – jedoch ohne jegliche Gesetzgebung. Und so ist es nach wie vor.
OBERRABBINAT Das Rückkehrgesetz indes ist festgelegt. Es besagt, dass alle Menschen, die mindestens einen jüdischen Großelternteil haben, nach Israel einreisen dürfen, um hier zu leben. Was dann geschieht, ist allerdings nicht mehr so unkompliziert. Zwar werden sie vom Staat als Menschen »mit jüdischer Herkunft« akzeptiert und erhalten die israelische Staatsangehörigkeit, das orthodoxe Oberrabbinat aber, das alle religiösen und familiären Belange kontrolliert, erkennt sie nicht als Juden an.
Damit sind ihnen verschiedene Dinge des Alltags versagt: zum Beispiel die Heirat in Israel oder die Beerdigung auf einem jüdischen Friedhof. Jude ist für die Ultraorthodoxen nur, wer eine jüdische Mutter hat oder entsprechend ihrer Standards konvertiert ist. Nur in wenigen Ausnahmefällen können Partner, die als »ohne Religionszugehörigkeit« registriert sind, in einer zivilen Eheschließung in Israel heiraten. Das wurde durch eine Gesetzesänderung im Jahr 2010 beschlossen. Allerdings ist es wieder das Oberrabbinat, das bestimmen muss, ob die Betreffenden tatsächlich nicht jüdisch sind.
Derzeit leben nach Schätzungen des Ministeriums bereits 400.000 Nichtjuden, größtenteils aus Russland, der Ukraine und den baltischen Staaten, in Israel. Ihre Zahl wächst stetig durch Geburten und Einwanderung. Verschiedene Interessengruppen setzen sich für die Rechte dieser Menschen ein. Darunter Itim, die meint, dass diese Olim Chadaschim »in einem bürokratischen Niemandsland gefangen sind, in dem ihnen grundlegende Rechte des jüdischen Lebens verwehrt werden«. Die Situation sei inakzeptabel, vor allem in Hinblick auf das dysfunktionale System der Konversionen, das gerade einmal 2000 Menschen jährlich zum Übertritt in das Judentum verhelfe.
HALACHA Auch Shuki Friedman, der Leiter des Zentrums für Staat, Nation und Religion am Israelischen Demokratieinstitut (IDI) in Jerusalem, findet diese »Lücke zwischen dem Rückkehrgesetz und der Halacha« höchst problematisch. »Die meisten von ihnen leben als Israelis, zahlen Steuern, gehen zur Armee und tun alles, was die anderen auch tun. Dennoch gehören sie nie gänzlich dazu. Das kann für sie zu einem immensen Konflikt führen.« Die einzige anerkannte Konversion, die ultraorthodoxe, bedeute für viele von ihnen ein Dilemma. »Viele dieser Leute würden gern übertreten und ziehen es ernsthaft in Erwägung, richtig dazuzugehören. Doch sie müssten dafür ihr Leben komplett umkrempeln und für immer entsprechend orthodoxer religiöser Regeln leben. Das passt für die wenigsten.«
DEMOGRAFIE Ob die wachsende Zahl von Nichtjuden, die in den jüdischen Staat immigrieren, nicht in der Zukunft ein demografisches Problem darstellen könnte, komme ganz auf die Perspektive an, meint Friedman. »Es geht dabei um die Frage, was die Identität eines Juden ausmacht.« Ginge es nur um die Halacha, könnte es ein Problem darstellen, doch andererseits betrachtet sich die große Mehrheit der Einwanderer selbst als jüdisch. Nur eine kleine Minderheit würde sich zu einer anderen Religion, etwa dem Christentum, bekennen.
Politiker kämpfen darum, den Konversionsprozess zu liberalisieren.
»Sie sehen sich als dem jüdischen Volk zugehörig an und verhalten sich auch so«, macht Friedman deutlich. Das ist der Grund, weshalb er keine legalen oder politischen Probleme sieht, die sich aus den neuen Einwandererzahlen ergeben könnten. »Sie sind wie die Mehrheit der jüdischen Israelis auch.« Allerdings, ist er sicher, werden sie zunehmend gegen die Einschränkungen, die ihnen auferlegt werden, aufbegehren und beispielsweise nur für Parteien stimmen, die es sich zur Aufgabe machen, ihre Rechte zu vertreten. Dazu gehört in erster Linie die Partei von Ex-Verteidigungsminister Avigdor Lieberman, Israel Beiteinu, für die traditionell Menschen aus der ehemaligen Sowjetunion stimmen.
Stimmt es, dass Israel hervorragend darin ist, Menschen ins Land zu holen, aber nicht besonders gut, sie zu integrieren? »Das könnte man wohl so sagen«, fasst der Experte vom Demokratieinstitut zusammen. »Die Regierung müsste sich der Problematik annehmen und das Leben für diese Menschen einfacher machen. Dazu gehören parallele Wege für die Heirat und einfachere Möglichkeiten, das Judentum anzunehmen.« Allerdings komme es auch hierbei wieder auf die Perspektive an. »Vielleicht ist es für viele in den ersten Jahren nicht leicht in Israel. Aber wenn man sich die Geschichte unseres Landes, eines Einwandererlandes, anschaut, wird deutlich, dass sich trotz der Schwierigkeiten fast alle hier irgendwann zu Hause fühlen.«