Bis vor einigen Monaten war sie Sängerin an der Neuen Israelischen Oper. Heute sitzt Natali Digora auf ihrem Bett und kann die Tränen kaum zurückhalten. Im März verlor sie ihre geliebte Arbeit und damit ihr Einkommen von einem Tag auf den nächsten. Als der Kühlschrank leer war, begann der Hunger.
Doch dann kamen die Speisen von Leket – und damit wieder Hoffnung in ihr Leben. Auch an Rosch Haschana ist die 48-Jährige auf die Spenden der nationalen Food Bank angewiesen. An diesem jüdischen Neujahr sieht sich Leket besonderen Herausforderungen ausgesetzt. Joseph Gitler, Gründer und Vorsitzender, ist sicher, dass diese Hohen Feiertage durch die Pandemie völlig anders sein werden als sonst. »Im Moment wissen wir noch nicht einmal, was morgen passieren wird.«
Bevor das Coronavirus ausbrach, hatte die Organisation sogar eine Verbesserung der Armut im Land gesehen. »Es gab immer noch Bedürftige, natürlich. Aber auf den Straßen spürten wir, dass sich etwas in die positive Richtung entwickelt.«
EINKOMMENSSKALA Durch die Pandemie indes wurde dies völlig zunichtegemacht. »Jetzt sind die schon vorher Armen noch ärmer, besonders die Menschen, die sich am unteren Ende der Einkommensskala befinden. Reinigungskräfte, Arbeiter in der Gastronomie und andere wurden am stärksten getroffen. Dazu kämen die neuen Armen durch die Krise.
Während des ersten Lockdowns brachen alle Strukturen zusammen.
»Fast allen Restaurants in Israel geht es schlecht«, weiß Gitler. Viele Leute haben sehr viel weniger Geld und Angst, aus dem Haus zu gehen. Andere haben sich daran gewöhnt, zu Hause zu kochen. All das sind Gründe, nicht mehr zum Essen auszugehen.« Doch was bedeutet das für Rosch Haschana?
Normalerweise »sammelt« die Organisation 10.000 fertige Speisen am Tag, die in Unternehmen, Restaurants, bei Hochzeiten oder anderen Feiern übrig bleiben, und verteilt sie an Suppenküchen, Seniorenstätten, Obdachlosenzentren und andere. Doch während des ersten Lockdowns im März brachen alle Strukturen zusammen. »Am 20. März hatten wir kein einziges Essen mehr. Doch die Menschen, viele mehr als bisher, waren hungrig.«
Leket ging es wie den meisten Hilfsorganisationen. Doch die Mitarbeiter wollten nicht aufgeben. »Wir haben uns zusammengesetzt und kamen zu dem Schluss, dass wir in unserer Organisation sowohl die Leute als auch die Logistik haben, um Essen direkt an die Armen zu verteilen. Also entschieden wir, dass wir Essen von Lokalen und Catering-Unternehmen kaufen und es zu den Menschen nach Hause bringen.«
»MEAL FOR 2« Die Aktion »Meal for 2« (Essen für zwei) war geboren. Gitler betont, seine Organisation habe das Gegenteil von dem getan, was viele andere taten. »In der Zeit der Krise sind wir expandiert – einfach, weil das Bedürfnis viel größer ist. Wir wissen, das war die richtige Entscheidung.«
Von April bis Ende Juni hatte Leket auf diese Weise wieder 10.000 Speisen am Tag liefern können. »Eine Win-win-Situation, bei der wirklich beide Seiten profitieren, die Bedürftigen und die Lokale, denen es wirtschaftlich schlecht geht.« Doch dann ging auch Leket das Geld aus, denn durch die Krise flossen weniger Spenden in die Kasse. Mittlerweile liegt die Zahl der verteilten Speisen bei 4000 pro Tag, doch Gitler will mehr. Besonders der zweite Lockdown, gepaart mit den Hohen Feiertagen, bereitet ihm große Sorgen.
Zwei Millionen Israelis haben durch die Corona-Krise Einkommen verloren, gibt eine neue Untersuchung des Israel Democracy Institute (IDI) bekannt.
Zwei Millionen Israelis haben durch die Corona-Krise Einkommen verloren, gibt eine neue Untersuchung des Israel Democracy Institute (IDI) bekannt. Davon sind 20 Prozent Geschäftsinhaber, die ihr Unternehmen entweder zeitweise oder vollständig schließen mussten. Die großen Auswirkungen der Rezession werden vollständig erst ab dem Jahr 2021 zu spüren sein. Diese »Corona-Armen« befänden sich in einer Art freiem Fall, was dazu führen könnte, dass es in Israel eine »viel ärmere Mittelklasse geben wird, als die Gesellschaft halten kann«.
konsum Im zweiten Quartal von 2020 war der Konsum der Israelis um mehr als 43 Prozent geschrumpft, berichtete das Zentrale Büro für Statistik. Die Zahl wird mit dem zweiten Lockdown noch in die Höhe schnellen. Auch beim Essen sparen die Israelis immer mehr. Einer von fünf gibt »viel weniger Geld für Lebensmittel aus«. Gleichzeitig nahm die Anzahl der Hungrigen rasant zu. Hilfsorganisationen melden eine Steigerung von bis zu 150 Prozent.
Für Rosch Haschana verschickte Leket Grußkarten mit der Bitte zu spenden. Darauf stand: »Schana towa! Der Zirkel der Armen vergrößert sich. An diesem Neujahr könnte jemand dabei sein, den Sie kennen.« Gitler weiß, dass Hunger und die Bitte um Essen noch immer mit großer Scham verbunden sind. »Doch das sollte nicht so sein, denn es kann absolut jeden treffen. Besonders jetzt.«