Trauer um Michail Gorbatschow: Israel und jüdische Organisationen in der Diaspora würdigen den am Dienstag im Alter von 91 Jahren verstorbenen früheren sowjetischen Staatschef.
Ende der 80er-Jahre hatte es Gorbatschow nach langen Verhandlungen mit dem Westen den damals zwei bis drei Millionen in der Sowjetunion lebenden Juden erlaubt, das Land zu verlassen, was eine große Mehrheit auch tat – sehr zum Bedauern des Staatschefs.
REFORMPOLITIK Auch den weit verbreiteten Antisemitismus in der UdSSR hatte Gorbatschow 1991 als erster Sowjetführer offen angesprochen: »Die Stalin-Bürokratie, die sich öffentlich vom Antisemitismus distanzierte, benutzte ihn in Wirklichkeit als Mittel, um das Land von der Außenwelt zu isolieren und ihre diktatorische Position mit Hilfe des Chauvinismus zu stärken.«
Gorbatschow, der von 1985 bis 1991 an der Spitze der Kommunistischen Partei (KPdSU) stand und später auch Präsident des Landes war, führte zunächst seine vorsichtige Reformpolitik der »Glasnost« (Offenheit) ein. Damit wurde es Juden erstmals gestattet, ihre Religion offen zu praktizieren, Jiddisch und Hebräisch zu sprechen, jüdische Publikationen zu drucken und zu verbreiten sowie jüdische Texte zu studieren. Später wurde dann auch die Ausreise nach Israel und in andere Länder des Westens möglich.
FREIHEIT Zwischen 1989 und 1999 wanderten mehr als 750.000 sowjetische Juden nach Israel aus. Nach Deutschland kamen in den 90er-Jahren rund 200.000 sogenannte jüdische Kontingentflüchtlinge. Der langjährige Oberrabbiner von Moskau und Präsident der Konferenz europäischer Rabbiner, Pinchas Goldschmidt, schrieb am Mittwoch auf Twitter: »Drei Millionen sowjetische Juden verdanken (Gorbatschow) ihre Freiheit.«
In einem weiteren Tweet gab Goldschmidt eine Anekdote zum Besten: »Das letzte Mal, dass ich Michail Gorbatschow besuchte, war 1996, vor den Präsidentschaftswahlen in Russland. Er fragte mich: ›Soll ich kandidieren?‹ Ich antwortete: ›Ja, in Israel sind Sie sehr beliebt!‹ Als er die Geschichte einige Wochen später dem damaligen israelischen Ministerpräsidenten Schimon Peres erzählt habe, der ebenfalls vor einer Wahl stand, habe dieser erwidert: ›Wir haben doch schon genug Kandidaten in Israel‹.«
War Gorbatschow nach seinem (erzwungenen) Abtritt 1991 im Westen und auch in Israel sehr populär, war dies in Russland ganz anders. Viele Menschen dort verübelten ihm, dass er die Auflösung der UdSSR und das anschließende Chaos im Innern Russlands nicht verhindern konnte. In Deutschland, aber auch in den USA blieb dagegen die Erinnerung an einen Politiker, der nicht nur die Wiedervereinigung ermöglicht hatte, sondern auch die Auflösung des Warschauer Paktes und der sowjetischen Dominanz in Mittel- und Osteuropa. 1990 wurde Gorbatschow für seine Rolle beim Fall der Berliner Mauer und des Eisernen Vorhangs der Friedensnobelpreis verliehen.
Israels Staatspräsident Isaac Herzog bezeichnete den Verstorbenen daher auch als »eine der außergewöhnlichsten Persönlichkeiten des 20. Jahrhunderts«, der »mutig und visionär« gehandelt habe und die Welt in einer Art und Weise verändert habe, wie es bis dahin »unvorstellbar« gewesen sei.
KALTER KRIEG Der Geschäftsführer des amerikanisch-jüdischen Dachverbands Conference of Presidents of Major American Jewish Organizations, William Daroff, schrieb auf Twitter, Gorbatschows »Bemühungen um die Öffnung der sowjetischen Gesellschaft trugen dazu bei, den Kalten Krieg und die Verfolgung von Millionen sowjetischer Juden durch die Regierung zu beenden«.
Der Jüdische Weltkongress äußerte sich ebenfalls zum Tod von Gorbatschow. Präsident Ronald S. Lauder nannte den Verstorbenen »einen großen Staatsmann, einen Verfechter von Freiheit und Menschenrechten und einen wahren Freund des jüdischen Volkes, der durch sein Handeln unzähligen sowjetischen Juden die Rückkehr zu ihrem Erbe ermöglichte«.
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