Vor fünf Monaten umschiffte er die Krise mit einer drastischen Kehrtwende, jetzt ist es unausweichlich: Israels Premier Benjamin Netanjahu kündigte Neuwahlen an. Während er vor dem letzten Zusammenbruch seiner Regierung alles versuchte, um den verfrühten Urnengang zu vermeiden und sogar eine große Koalition einging, geht er nun in die Offensive. Eine kurze Wahlkampagne sei im Sinne von Wirtschaft und Sicherheit des jüdischen Staates, erklärte er am Dienstagabend in einer dramatischen Ansprache im Fernsehen.
Es könnte schon Mitte Januar so weit sein. Die Legislaturperiode wäre eigentlich im Oktober 2013 zu Ende gegangen. Doch schließlich hat bis auf eine (nämlich die Koalition von Schimon Peres und Yitzhak Schamir 1984–88) in vier Jahrzehnten noch keine Regierung so lange durchgehalten. Hauptgrund für das Vorziehen sei die Unmöglichkeit, den Haushalt durchzubringen, erläuterte Netanjahu. Tatsächlich bewegt sich seine Mehrheit auf dünnem Eis. Bei 66 der 120 Sitze in der Knesset könnte jede Partei das Budget kippen.
»Das Wahljahr nähert sich«, so der Ministerpräsident vor der versammelten Politelite des Landes. »Und in solchen Jahren ist es schwierig für die Parteien, die nationalen Interessen vor ihre eigenen zu stellen.« Als Konsequenz jedoch würde eine massiv höhere Verschuldung drohen, die die Wirtschaft ruinieren könnte. Damit bestehe sogar die Gefahr, dass Israels Lage so schlimm werde wie in einigen europäischen Staaten. »Das lasse ich hier nicht zu.« Er, Netanjahu, wolle die nationalen Interessen vor alle anderen stellen und daher die Wahlen vorziehen. Und auch wieder mit seinem Likud antreten.
Die Gefahren aus dem Iran und die Turbulenzen in den Nachbarstaaten müssten ebenfalls in Betracht gezogen werden, sagte er weiter. »Wir müssen sicherstellen, dass der Iran keine Atomwaffen besitzt.« Keine Frage, dass Netanjahu der Meinung ist, er selbst könne dies am besten verhindern.
Loyalitäten Mittlerweile ist der Regierungschef für Ad-hoc-Operationen bekannt. Das letzte Ausweichmanöver war im Mai die Bildung einer Einheitsregierung mit Schaul Mofaz’ Kadima. Doch die große Koalition währte gerade einmal 55 Tage.
Nun gilt es, Loyalitäten zu sichern, Wahlplakate zu drucken und Programme zu überarbeiten. Hastig eilten die Politiker der verschiedenen Parteien nach der Pressekonferenz in ihre Hauptquartiere.
Der Knessetvorsitzende Reuven Rivlin lobte Netanjahu. Er wolle das Parlament so schnell wie möglich auflösen, am besten direkt nach Beginn der Wintersession am 15. Oktober. »Der Premierminister hat das Richtige getan. Es geht um Entscheidungen, von denen die nationale Sicherheit abhängt. Und die derzeitige Knesset kann sie offenbar nicht treffen.« Auch andere Politiker befürworteten den Schritt.
Finanzen Die Vorsitzende der Arbeitspartei, Scheli Jachimowitsch, meint, das Land stecke bereits seit einem halben Jahr in Wahlvorbereitungen. »Das ist ungesund und muss endlich beendet werden.« Ihre Partei sei bereit – sowohl strategisch als auch ideologisch. Allerdings müsse die Öffentlichkeit bedenken, so Jachimowitsch, dass Netanjahu nur deshalb jetzt Wahlen wolle, damit er anschließend extreme Haushaltskürzungen durchdrücken könne, die jeden Bürger im Land treffen würden – die Reichsten ausgenommen.
Dass die Finanzen nicht der einzige Grund für den Entschluss waren, darüber sind sich alle einig. Denn zwischen Netanjahu und seinem engsten Verbündeten, Verteidigungsminister Ehud Barak, kriselt es. Noch vor Kurzem schienen sie das perfekte Paar zu sein. In der Satiresendung »Eretz Nehederet« wurde ihnen gar eine Liebesbeziehung angedichtet. Doch in den letzten Wochen hieß es, die beiden hätten sich entzweit.
Manche Oppositionspolitiker, allen voran Zahava Gal-On von Meretz, fürchten, es handele sich um ein abgekartetes Spiel der beiden gewieften Politiker. Barak, ist Gal-On sicher, will durch die vermeintliche Entfernung vom Likud bei den nächsten Wahlen die Mitte-Links-Wähler für seine Partei Atzmaut abwerben – nur, um bei Koalitionsbildung in die wartenden Arme seines alt-neuen Regierungschefs zu fallen. Likud-Mitglied Jariv Levin indes erklärt, Wahlen seien eine Chance, »dass die israelische Regierung endlich die aufgezwungene Partnerschaft mit Barak beendet«.
Comebacks So oder so wird es bunt auf dem politischen Parkett. Die nach dem Sieg ihres Konkurrenten Schaul Mofaz in der politischen Versenkung verschwundene Zipi Livni trat just nach der Verkündigung wieder auf den Plan. Auf ihrer Facebook-Seite schrieb sie, dass Israel wegen Netanjahu isoliert sei und es Zeit ist, einen neuen Weg zu gehen. Ob sie diesen politisch begleiten wolle, ließ sie offen.
Für die meisten Spekulationen aber sorgt dieser Tage der einstige Jerusalemer Bürgermeister und Ex-Kadima-Vorsitzende Ehud Olmert. Nach dem milden Urteil in seinem Verfahren wegen Korruption stehen ihm alle Türen in der Knesset offen. Angeblich buhlen bereits ehemalige Parteifreunde um seine Gunst. Viele meinen, er sei der Einzige, der mit seiner gemäßigten Politik eine echte Herausforderung für Netanjahu darstellt.
Sollte Olmert dabei sein, wird er sicher neben Plakaten von Yair Lapid lächeln. Obwohl es in der letzten Zeit recht ruhig um den ehemaligen Journalisten und Nachrichtensprecher geworden war, hat er vor, sich mit seiner neuen Partei Atid (Zukunft) aufstellen zu lassen.
Jeder, der in der Knesset mitmischen will, wird sich nun mächtig ins Zeug legen, um seinem Profil Schärfe zu verleihen. Dennoch sieht es fast so aus, als habe Netanjahu mit seinem Überraschungscoup wieder einmal alle ausgetrickst. Denn momentan bescheinigen dem Regierungschef sämtliche Umfragen: Niemand kann ihm auch nur annähernd politisch das Wasser reichen.