Ein glatzköpfiger Mann, nach vorne gebeugt, den rechten Fuß auf eine Säule gestellt, das linke Bein nach hinten in die Luft gestreckt, die Arme ausgebreitet, in den Händen je vier Lenkdrachen. Offenbar hebt er gleich ab. So soll die zehn Meter hohe Skulptur von Dan Reisner einmal aussehen.
Dem Israeli sind die vielen Assoziationen bewusst, die sein Werk auslösen kann. Auch die negativen. Wie zum Beweis holt der Bildhauer einen Lenkdrachen aus seiner Werkstatt in die Galerie im Tel Aviver Stadtteil Noga, in Jaffa. Eine durchsichtige Plastikfolie, gespannt auf drei dünne Holzstreben, mit einem Schweif aus Papierfetzen. Bei näherem Hinsehen wird arabische Schrift erkennbar: Zeitungsseiten aus Gaza. Der Drachen wurde mit dem Westwind über den Grenzzaun geschickt, um in Israel Feuer zu legen. Dan Reisner hat ihn gefunden bei einem Besuch im Kibbuz Nahal Oz vor wenigen Wochen. Drachen, eigentlich Symbol von unbeschwerter kindlicher Freude und von Freiheit, werden von Menschen in Gaza in eine zerstörerische Waffe verwandelt.
Vorahnung Einen bösen, oder zumindest erschreckenden, Eindruck vermitteln auch die Drachen im Hauptwerk von Felix Nussbaum, auf das sich Reisner in seiner Arbeit, dem »Drachenläufer«, vor allem bezieht. Triumph des Todes heißt das letzte große Gemälde, das der deutsche, jüdische Maler 1944 im Brüsseler Versteck schuf, wenige Wochen, bevor er und seine Frau Felka Platek denunziert und nach Auschwitz deportiert wurden. Beide wurden im Vernichtungslager ermordet. Triumph des Todes – Untertitel »Die Gerippe spielen zum Tanz« – ist eine Verarbeitung des Verfolgungsschreckens, eine böse Vorahnung und doch gleichzeitig auch eine Befreiung. Der Akt der Malerei gibt dem Unfassbaren zumindest eine Gestalt.
Die Drachen, die den grau-düsteren Himmel in Nussbaums Gemälde bevölkern, schauen fratzenhaft auf die zerstörte Landschaft. Man kann sie als Ausdruck von Hilflosigkeit deuten. Die Drachen von Dan Reisner aber strahlen Frohsinn aus, sie sind Zeichen von Hoffnung. Triumph des Lebens soll sein Werk heißen. Seit über einem Jahrzehnt arbeitet der israelische Bildhauer daran. Er hat Skizzen angefertigt und Modelle geschaffen, Orte besichtigt und Kontakte geknüpft, insbesondere mit Verantwortlichen in Nussbaums Heimatstadt Osnabrück, wo die Skulptur einmal aufgestellt werden soll.
Bundespräsident Im Mai besuchte der ehemalige Bundespräsident Christian Wulff Reisners Studio. Seitdem ist die Hoffnung des Künstlers gewachsen. »Er kam in Begleitung des Botschafters. Ich habe ihnen mein Projekt erklärt, und Herr Wulff hat versprochen zu helfen«, sagt der Bildhauer. Das Aufstellen der Skulptur aus Bronze und Beton würde 200.000 bis 250.000 Euro kosten, schätzt Reisner. Die Finanzierung ist noch nicht geklärt.
Doch vielleicht kann Christian Wulff, der nicht nur gebürtiger Osnabrücker, sondern auch Mitglied im Kuratorium der Felix Nussbaum Foundation ist, tatsächlich helfen. Fotos auf Reisners Facebook-Seite zeigen den Ex-Bundespräsidenten, wie er die Modelle und Zeichnungen für das Projekt begutachtet. Botschafter Clemens von Götze schickte dem Künstler nach dem Besuch einen Brief: »Dieser ›Triumph des Lebens‹ passt sehr gut zur Entwicklung der diplomatischen Beziehungen zwischen Deutschland und Israel.«
Tatsächlich sind da in Reisners Werk nicht nur die Drachen als Zeichen der Entwicklung vom Tod zum Leben, vom Holocaust zu den heute alles in allem sehr guten Beziehungen. Die Säule, auf der dieser Drachenläufer balanciert, entstammt Reisners Erinnerung an seinen ersten Deutschlandaufenthalt. 2008 verbrachte er einige Wochen bei dem schwäbischen Bildhauer Lutz Ackermann in Gäulfelden-Nebringen bei Stuttgart, vermittelt durch das Goethe-Institut. Gemeinsam fuhren der Israeli und der Deutsche durch die Region, auf der Suche nach den Spuren jüdischen Lebens und denen der Nazis. »
Wir besuchten auch den Ort Hailfingen-Tailfingen, wo im Krieg ein Flugplatz war«, erzählt Reisner, dessen Vorfahren aus Litauen kamen. Ab September 1944 war hier zum Ausbau des Fliegerhorsts ein Außenlager des KZ Natzweiler-Struthof eingerichtet worden. Heute erinnert ein Mahnmal an die Toten. »Wir entdeckten dort auch drei Betonstelen, die aus einem Gebüsch aufragten«, sagt Reisner: die Reste eines Hangars. Bei diesem Anblick kam ihm zum ersten Mal die Idee; er zeichnete ein balancierendes Skelett in sein Skizzenbuch.
Kriegstraumata »Etwa zur selben Zeit habe ich das Werk von Felix Nussbaum kennengelernt und gleich die Verbindung gesehen«, erzählt der Künstler. Zunächst wollte er die Figur in Brüssel aufstellen, dem Ort also, an den der Künstler geflüchtet war. 2015 besuchte Reisner dann zum ersten Mal Osnabrück, wo er in diesem Jahr Gespräche mit Verantwortlichen der Stadt und der Felix Nussbaum Foundation führte. So entstand die Idee, Christian Wulff einzuschalten. »Wir hatten eine faszinierende Unterhaltung, mehr als eine Stunde lang«, erinnert sich der Bildhauer an den Besuch des Staatsoberhaupts a.D. in Tel Aviv.
Dabei erklärte Dan Reisner auch, was es mit der Figur des Drachenläufers auf sich hat. Sie ist ihm selbst nachempfunden, genau wie eine Sammlung von Bronzeplastiken, die Reisner geschaffen hat. Durch diese Arbeit hat er die posttraumatische Belastungsstörung aus seinen Einsätzen im Libanonkrieg überwunden. Mittlerweile hilft er auch anderen ehemaligen Soldaten am Klinikum Tel HaShomer, mit der Bildhauerei ihre Kriegstraumata zu verarbeiten.
Reisners bisher bekannteste Werke stehen in Haifa und in Ramat Aviv. Sie erinnern an die Rettung der dänischen Juden im Zweiten Weltkrieg und an einen katastrophalen Helikoptercrash im Jahr 1997. Der Triumph des Lebens könnte nicht nur in Osnabrück für Aufsehen sorgen. Auch die Stadt Jerusalem und die Holocaustgedenkstätte Yad Vashem interessieren sich für den Drachenläufer.