Es war wie reinste Hollywood-Action – und es ist der Hoffnungsschimmer, den die Israelis so dringend brauchten. Inmitten der Schreckensnachrichten, dass weniger Geiseln am Leben seien als angenommen, wurden Sonntagnacht zwei Israelis lebend befreit.
Ein Sonderkommando der israelischen Armee holte die Männer aus einer Wohnung in der Stadt Rafah im südlichen Gazastreifen, wo sie, bewacht von Terroristen, schliefen. Der 70-jährige Luis Har, vierfacher Vater und zehnfacher Großvater, sowie sein Schwager, der 60-jährige Fernando Merman, sind in guter körperlicher Verfassung. 129 Tage waren sie in der Gewalt der Hamas.
Am Morgen äußerte sich Armeesprecher Daniel Hagari zu der dramatischen Rettungsaktion »Goldene Hand«, eine Gemeinschaftsoperation von Yamam, einer IDF-Eliteeinheit, und Offizieren des Inlandsgeheimdienstes Schin Bet. »Nach einem IDF-Angriff aus der Luft drangen die Spezialeinheiten um 1.49 Uhr in ein Gebäude im Zentrum von Rafah ein und fanden Merman und Har im zweiten Stock.«
Feuergefecht mit bewaffneten Terroristen
Es sei zu einem Feuergefecht mit bewaffneten Terroristen gekommen, bei dem Soldaten die Geiseln mit ihren Körpern schützten. Hagari bestätigte damit, dass die IDF in der Stadt Rafah Angriffe geflogen habe: »Die Luftwaffe sorgte für eine kontinuierliche Deckung des Bodeneinsatzes, die es den Truppen ermöglichte, das Gebäude zu verlassen.«
Die Aktion sei vom Militärhauptquartier in Tel Aviv aus geleitet worden. Anwesend war neben Verteidigungsminister Yoav Gallant und den Chefs des Sicherheitsestablishments auch Ministerpräsident Benjamin Netanjahu. Der dankte den »tapferen Kämpfern für ihre mutige Aktion« und sprach in diesem Zusammenhang vom »ultimativen Sieg«. Es ist sein Mantra geworden.
Für den Regierungschef der rechtesten und religiösesten Koalition in der Geschichte des Landes ist es eine Bestätigung seiner Linie, dass nur »anhaltender militärischer Druck bis zum völligen Sieg« zur Freilassung aller Geiseln führen könne. Viele Experten und Angehörige der Verschleppten bezweifeln das. Denn während der dramatische Einsatz von Sonntagnacht Erfolg hatte, waren andere Rettungsmissionen fehlgeschlagen. Immer wieder betonen die Familien der Geiseln, dass ihre Liebsten keine Zeit mehr haben. »Wir wollen sie lebend zurück, nicht in Särgen«, skandieren sie tagein, tagaus.
Verteidigungsminister Yoav Gallant nannte die Aktion in einer Presserklärung einen »Wendepunkt« in der Kampagne. »Die Hamas ist verwundbar und versteht, dass wir jeden Ort erreichen können.« Er lobte die Einsatzkräfte: »Sie haben unsere Stimmung gestärkt. Der Tag, an dem es weitere Operationen geben wird, ist nicht mehr weit.«
»Diese Befreiungsaktion war die Essenz des Staates Israel.«
Idan Bejerano
Die Befreiten Har und Merman seien in einem stabilen gesundheitlichen Zustand, so der Direktor des Sheba-Krankenhauses, Arnon Afek. Der bedeutendste Moment sei das Wiedersehen mit ihren Angehörigen gewesen. »Monatelang hatten sie sich nicht gesehen. Es sind ein 70-jähriger und ein 60-jähriger Mann, keine jungen Leute. Diese Menschen haben nichts getan, es sind Zivilisten. Wir sind so glücklich, dass sie bei uns sind, und hoffen, noch viele solcher Momente zu erleben.«
Die Männer wurden am 7. Oktober von Hamas-Terroristen aus ihrem Kibbuz Nir Yitzhak gekidnappt. Clara Merman, die Schwester von Fernando, sowie Luis’ Schwester Gabriela mit ihrer 17-jährigen Tochter Mia wurden ebenfalls verschleppt. Die drei waren Ende November im Rahmen eines Deals zwischen Israel und der Hamas freigekommen.
»Das israelische Volk braucht so einen Deal«
Der Schwiegersohn von Luis Har, Idan Bejerano, sei nach dem »völlig überraschenden Anruf« vor Freude auf- und abgesprungen und sofort zum Krankenhaus gefahren. »Beim Wiedersehen gab es viele Umarmungen, Tränen – und gar nicht so viele Worte.« Beide Befreiten seien sehr dünn, blass und emotional erschöpft. Bejerano dankte der Armee und nannte den Einsatz »die Essenz des Staates Israel«. Er erinnerte jedoch an die 134 in Gaza verbleibenden Geiseln und bat die beteiligten Seiten, eine Vereinbarung auszuhandeln. »Das israelische Volk braucht so einen Deal.«
Doch der scheint noch nicht in greifbarer Nähe. Denn während die Hamas ihre Bedingungen für eine Vereinbarung ständig ändert und verschärft, lehnte auch Netanjahu den Gegenvorschlag der Terrorgruppe auf Israels Angebot für eine Einigung ab. Der Grund: »Die Kapitulation vor den wahnhaften Bedingungen der Terroristen würde zu einem weiteren Massaker und einer großen Tragödie für Israel führen.«
Später erklärte er, dass die IDF angewiesen sei, einen Plan vorzulegen, der die Evakuierung der Zivilbevölkerung aus Rafah im Süden der Enklave und die Zerstörung der verbleibenden Terror-Infrastruktur vorsehe. Der Angriff sei nötig für das Kriegsziel Israels, die »Hamas vollständig zu zerschlagen«. Einen Hinweis, wie lange dies dauern könnte, oder einen Plan für Gaza »am Tag danach« hat die Koalition bisher nicht öffentlich gemacht. In Israel geht man davon aus, dass es nach Ende des Krieges zu Neuwahlen kommt, was sogar Minister fordern, die im Kriegskabinett sitzen. Die derzeitige Koalition würde Umfragen zufolge weit von einer Mehrheit in der Knesset entfernt sein.
Hinter den Kulissen laufen die Verhandlungen für einen weiteren Geiseldeal.
Am Dienstag äußerte sich Jordaniens König Abdullah II. bei einem Besuch in Washington zu einer möglichen Bodenoffensive in Rafah, wohin ein Großteil der palästinensischen Zivilbevölkerung aus dem Norden und dem Zentrum der Enklave geflüchtet ist, mehr als eine Million Menschen. »Wir können uns keinen israelischen Angriff auf Rafah leisten. Es würde sicher zu einer weiteren humanitären Katastrophe führen«, sagte er vor dem Weißen Haus.
Auch US-Präsident Joe Biden hat am Montag in einem Telefonat mit Premier Netanjahu klargemacht, dass es keinen Militäreinsatz in der dicht besiedelten Grenzstadt Rafah geben dürfe, ohne einen »glaubwürdigen Plan« zum Schutz der Zivilisten.
Währenddessen verhandeln die Vermittler zwischen Israel und der Hamas weiter, um doch noch einen Geiseldeal durchzudrücken. Am Dienstag flog eine Delegation aus Israel nach Ägypten. Doch selbst wenn ein Deal schon bald Realität würde – für viele Angehörige wird es keinen Moment der Freude mehr geben, nachdem die IDF bestätigte, dass »nach internen Einschätzungen« mindestens 32, möglicherweise sogar mehr als 50 der 134 Entführten nicht mehr am Leben sind. Der traurige Ruf der Familien »Ihre Zeit läuft ab«, heißt für viel zu viele schon jetzt: »Es ist zu spät.«