Am 7. Oktober 2023 hatte Major Dov Lang Urlaub, als der Kommandeur des 77. Panzerbataillons kurz nach Sonnenaufgang an die Grenze zu Gaza beordert wurde. Sein Bataillon mit zwölf Panzern und bis zu 60 Soldaten gehört zur legendären 7. Brigade, die in allen Kriegen gegen Israel an der Front stand. Wie alle anderen Kommandeure der israelischen Armee wurde auch er damals vom Überfall der Hamas nach Israel komplett überrascht. Es dauerte Stunden, bis sie das Ausmaß der Invasion auch nur annähernd erfassen konnten. Zwei Kibbutzim haben Dov Lang und seine Männern retten können, allein um den Kibbutz Nir’am kämpften sie über Stunden gegen 80 schwer bewaffnete und zu allem entschlossene Terroristen. Acht seiner Soldaten fielen, vier wurden nach Gaza verschleppt, nur einer von ihnen ist noch am Leben, Matan Angrest, um dessen Rückkehr er täglich bangt.
Herr Lang, wie begann der 7. Oktober für Sie?
Ich war zu Hause in Haifa. Um 6.20 Uhr hat mich mein Stellvertreter aus der Militärbasis in Nahal Oz angerufen. Er sagte mir, dass Terroristen nach Israel eingedrungen seien. Das Ausmaß habe ich da noch nicht verstanden.
Wann haben Sie es verstanden?
Um 7.30 Uhr rief mich Kobi, einer meiner Soldaten an und sagte: »Mein ganzes Team ist tot.« Also rief ich sofort meinen Stellvertreter in Nahal Oz an und sagte: »Fahr los und rette Kobi.« Und er antwortete: »Was redest du da? Ich sitze im Bunker und werde beschossen, um mich herum tote Soldaten. Verdammt nochmal, wovon sprichst du?« Da habe ich verstanden, dass ich nichts verstehen. Die gesamte Befehlskette war zusammengebrochen. Alles brach zusammen. Kein Kommandeur konnte jemanden erreichen, der unter ihm war und, schlimmer noch, kein Kommandeur konnte mit jemandem sprechen, der über ihm war. Mir wurde klar, dass jeder jetzt sein eigener General ist und eigenständig so gut wie möglich entscheiden muss.
Als Sie in Haifa losgefahren sind, war Nahal Oz ja schon belagert. Wohin sind Sie gefahren?
Zunächst habe ich meinem ganzen Team gesagt, dass sie, wie auch immer zur Tankstelle an der Aschkelon-Kreuzung kommen sollten. Einer wurde von seiner Mutter gefahren. Sie stieg aus dem Auto, drückte mich und sagte: »Bring mir meinen Sohn lebend zurück!« Und ich: »Sicher, sicher.« Mir war inzwischen klar, dass ein Kompanie-Kommandant an diesem Tag wertlos ist und ich als Panzerkommandeur auf dem Schlachtfeld gefragt bin, also fuhr ich mit drei Soldaten los. Mein erster Befehl war: »Schaut aus dem Fenster, und wenn ihr etwas Verdächtiges seht, dann schießt.«
Was war Ihr Ziel?
Als erstes fuhren wir zur Militärbasis Niftach, weil ich wusste, dass wir dort einen Panzer haben. Gegen 9.30 Uhr rief mich der Brigade Kommandeur an und sagte: »Fahr sofort nach Nir’am. In wenigen Minuten werden sie durchbrechen und ich brauche einen Panzer dort.« Als ich in Nir’am ankam, begann für mich die Schlacht, meine erste überhaupt, obwohl ich da schon seit neun Jahren in der Armee war. Und ständig neue Nachrichten meiner Soldaten. Also habe ich das Handy ausgeschaltet und mich damit für die Zivilisten und gegen meine Soldaten entschieden. Viele Kommandeure haben das gemacht. So sind wir erzogen. Zivilisten zuerst.
Sie beide haben den Kibbuz Nir’am gerettet.
Ich wünschte, dass wir alle so hätten schützen können wie Nir’am. Leider konnten wir es nicht.
Welches Bild kommt Ihnen in den Sinn, wenn Sie an Nir’am denken?
Ich erinnere mich an Terroristen, die einfach vor meinem Panzer stehenblieben und mich voller Hass in den Augen anschauten. Sie waren offensichtlich auch vollgepumpt mit Drogen, denn wenn wir schossen, dauerte es eine Weile, bevor sie umfielen. Aber vor allem dieser Hass.
Wenn Ihnen jemand gesagt hätte, das ist der Plan der Hamas. Hätten Sie das geglaubt?
Nein. Ich hätte ihn ausgelacht. Und genau das ist passiert. Es gab einen Kommandeur, Tomer Grinberg, der gefallen ist. In unseren wöchentlichen Lagebesprechungen warnte er wiederholt, dass sie von hier und von dort, von vielen Stellen gleichzeitig eindringen würden. Ich habe hinten gesessen und gelacht. Es erschien so absurd. Alle im Raum lachten. Auch der Brigade-Kommandant.
Kfar Aza hat für Sie eine besondere Bedeutung. Welche?
Kfar Aza war einer der Kibbuzim, für den meine Panzereinheit verantwortlich war. Um 7 Uhr morgens hat ihn ein Panzer erreicht, aber er war allein und ohne Funkverbindung. Zwei Stunden lang glaubte er, den Kibbuz erfolgreich zu schützen, während drinnen bereits furchtbare Dinge passierten.
Die Terroristen waren bereits im Kibbuz, ohne dass er es wusste?
Ja. Letztlich ist ein Kibbuz ein großes Gebiet, das man nicht mit einem einzigen Panzer verteidigen kann, wenn die Terroristen an drei, vier Stellen eindringen. Wir haben das nicht erkannt. Zwei Stunden lang hat er Terroristen getötet, sie aufgehalten. Aber es war natürlich nicht genug. Gegen 10.30 Uhr habe ich den Panzerkommandanten angerufen. Ich habe keinen Befehl gegeben, aber ihn gebeten, einem anderen Panzer zu Hilfe zu kommen, wenn er kann. Also hat er Kfar Aza verlassen und ist Richtung des Kibbuz Sa’ad gefahren. Die Terroristen waren kurz davor, den Kibbuz einzunehmen, und dann kam er mit seinem Panzer und rettete Kibbuz Sa’ad. Diese jungen Kommandanten mussten unglaubliche Entscheidungen treffen und am Ende muss man die Entscheidung, Kfar Aza zu verlassen, abwägen gegen die Rettung des Kibbuz Sa’ad. Und die Rettung vieler weiterer Menschen auf dem Weg zum Kibbuz Sa’ad. Trotzdem ist es schwer, mit dem Wissen zu leben, dass du vielleicht mehr Menschen hättest retten können, auch wenn du es nicht konntest. Und Kibbuz Kfar Aza ist der Kibbuz mit den meisten zivilen Opfern im Bereich meiner Kompanie. Es ist sehr, sehr hart.
Wie wird Kfar Aza in zehn Jahren aussehen?
Es wird ein fröhlicher Ort sein, kein Museum. Wir glauben an das Leben, nicht an Gedenkstätten für den Tod. Ich bin überzeugt davon, dass es nach dem 7. Oktober wichtig war, innezuhalten, damit wir nicht vergessen und uns darin erinnern, wofür wir kämpfen. Aber in zwei, drei Jahren wird es wieder ein glücklicher Ort sein. Junge Menschen werden zurückkommen und dort leben. Wir lieben das Leben, nicht den Tod. Das ist die Stärke der jüdischen Nation, der israelischen Nation.
Der IDF-Untersuchungsbericht liegt jetzt vor. Was ist aus Ihrer Sicht der größte Fehler, der den 7. Oktober möglich gemacht hat?
Es sind viele Fehler. Aber letztlich läuft es auf den einen großen Fehler hinaus anzunehmen, dass die Hamas ähnlich denkt, wie wir und keinen Krieg will. Wenn du ihnen Geld gibst und Arbeit, werden sie Ruhe geben. Diese Fehleinschätzung führte dazu, zu wenig Armee an der Grenze zu haben und sich darauf zu verlassen, dass ein Zaun uns retten würde. Ich darf meinen Feind aber nie durch meine Augen betrachten, nie davon ausgehen, dass er handelt, wie ich handeln würde.
Was heißt das konkret?
Wenn ich Yahya Sinwar gewesen wäre, hätte es für mich keinen Sinn ergeben, einen Angriff zu starten, schon allein wegen der Folgen für Gaza. Sie wussten, was passieren würde. All die Zerstörung, der Krieg. Du kannst doch nicht kommen, 1200 Zivilisten töten und davonkommen. Aber unser Geheimdienst hat versagt, weil er den Feind nicht durch seine Augen analysiert hat. Und das ist traurig, weil es so viele Leben gekostet hat.
Sie sind in Gaza gewesen. Waren Sie auch in einem Tunnel?
Ich habe einige Tunnel entdeckt. Ich erinnere mich besonders an einen Tunnel in der Nähe des Shifa-Krankenhauses. Wir stiegen hinunter und ich war geschockt. Es war so eng und stickig, keine Luft, kein Licht. Mein erster Gedanke galt den Geiseln. Ich habe mich gefragt, wie die Geiseln dort überleben können. Später haben wir auch andere, größere, voll ausgestattete Tunnel gefunden mit Elektrizität. Es ist verrückt, sich vorzustellen, wie viel Energie sie in dieses Tunnelsystem gesteckt haben. Das ist ein weiteres Versagen unseres Geheimdienstes. Nach 2021 haben sie behauptet, dass die meisten Tunnel im Krieg getroffen und zerstört wurden, aber Sinwar sagte: »Drei Prozent!« Niemand glaubte ihm.
Das Ausmaß des Tunnelsystems war eine Überraschung?
Wie riesig es ist, ja. Überall Löcher, das ist verrückt.
Es gibt zwei Kriegsziele, die sich zu widersprechen scheinen: der Sieg über die Hamas und die Befreiung aller Geiseln.
Wir haben schmerzhaft erfahren, dass die Hamas unter militärischem Druck nicht zusammenfällt. Wenn der militärische Druck aber anhält, werden die Geiseln sterben. Wir können nicht beides machen. Und als Israeli denke ich, dass wir zuallererst unsere Geiseln rausholen müssen. Das ist das Wichtigste, moralisch und für uns als Gesellschaft, um aus dem Trauma des 7. Oktober herauszukommen. Wir müssen unsere Brüder und Schwestern zurückbringen, die aus ihren Häusern und Betten verschleppt wurden. Das ist der Grundvertrag zwischen den Zivilisten und ihrem Land. Danach können wir uns mit der Hamas beschäftigen.
Eine der Geiseln ist Matan Angrest. Erzählen Sie uns bitte etwas über ihn.
Matan unterstand meinem Kommando. Er war ein Soldat, ein Kämpfer. Er ist ein sehr, sehr sanfter, liebenswerter und starker Junge. Vor allem aber erinnere ich mich daran, wie er am 7. Oktober gehandelt hat, er und sein ganzes Team. Echte Helden. Der Feind war ihnen zahlenmäßig weit überlegen. Sie haben dennoch getan, was sie konnten.
Sind Sie zuversichtlich, ihn lebend wiederzusehen?
Ja. Vor einigen Tagen haben wir ein Video von Matan erhalten. Es ist herzzerreißend, aber es ist zumindest ein Lebenszeichen, ein Beweis, an den die Familie und wir alle uns klammern. Unsere Aufgabe als Land, als Gesellschaft und mit der Hilfe Präsident Trumps ist es jetzt, ihn lebend zurückzubringen, bevor etwas passiert.
Matan Angrests Vater sagte: »Wenn ein Soldat für sein Land kämpft, muss das Land auch für ihn kämpfen.«
Genau darum geht es. Ich glaube nicht, dass das Land bislang genug darum gekämpft hat, Matan und alle Geiseln freizubekommen. Menschen, die glauben, es sei wichtiger die Hamas zu besiegen als die Geiseln zu befreien, verstehen nicht den Kern dessen, was es heißt, Israeli zu sein, jüdisch zu sein, ein Mensch zu sein. Wie kann jemand so etwas sagen, wenn er sieht, was Eli Sharabi, was die Bibas Familie, was alle diese Menschen durchgemacht haben? Es wird viel Zeit brauchen, die Gesellschaft wieder zu vereinen, wenn so klare moralische Fragen zu einem solchen Dilemma in unserem Land geworden sind.
Ende März werden Sie nach Gaza zurückkehren. Mit welchem Gefühl? Wird Israel diesen Krieg gewinnen?
Was heißt gewinnen? Ich denke, die Hamas ist zwar nicht besiegt, aber sie wird nie mehr das sein, was sie war, zumindest nicht in den nächsten Jahren. Wenn ich wieder in den Krieg gehe, dann vor allem, um die Geiseln zu befreien. Mit allen anderen Zielen tue ich mich schwer. Ich hoffe, dass, wer immer die Entscheidung zu treffen hat, versteht, dass der Krieg nicht endlos weiter gehen kann. Wir wollen das nicht. Nicht für uns, nicht für sie, für niemanden. Aber er kann nicht enden, bevor die Geiseln zu Hause sind.
Und dann?
Dann ist es wichtig, den Krieg mit der Unterstützung der Welt fortzuführen und die Hamas zu besiegen, denn wir wissen, dass wir nicht neben einer Organisation wie der Hamas leben können. Wir können nicht zulassen, dass sie es wieder tun, dass die Geschichte sich wiederholt.
Was ist für Sie die Botschaft des 7. Oktober an die Welt?
Der 7. Oktober hat gezeigt, was die wahre Absicht des Dschihad ist. Das ist nicht nur eine Bedrohung für Israel, sondern für die ganze Welt. Wir kämpfen jetzt für Israel, aber auch für die ganze freie Welt. Diesen Krieg müssen wir gewinnen und die Welt hat die Verantwortung, uns dabei zu unterstützen und nicht zu vergessen, was am 7. Oktober passiert ist. Die Bilder aus Gaza sich auch für mich als Israeli herzzerreißend. Wir wollen das nicht. Sie haben diesen Weg gewählt. Wenn wir nicht zurückschlagen und der Hamas, dem Dschihad, dem Iran zeigen, dass Israel, dass die Welt diesen Terror nicht toleriert, dann wird er auf der ganzen Welt sein. Bis er an die eigene Tür klopft, versteht man es nicht, aber das muss sich ändern.
Zum Schluss: Sie haben der Mutter versprochen, ihren Jungen heil nach Hause zu bringen. Haben Sie das Versprechen gehalten?
Ja, ich habe das Versprechen gehalten. Tatsächlich habe ich kürzlich mit seiner Mutter gesprochen. Er ist jetzt auf Weltreise, gerade in Vietnam. 14 Monate hat er an drei Fronten gekämpft: erst in Gaza, dann im Libanon, dann in Syrien. Jetzt hat er den Militärdienst beendet, reist und genießt das Leben.
Mit dem Kommandeur sprachen Esther Schapira und Georg M. Hafner.