Abkommen

Dies sind die sechs freigelassenen Geiseln

Ein Plakat in Jerusalem zeigt die Gesichter der Geiseln im Gazastreifen. Foto: picture alliance / newscom

Überwältigende Freunde und tiefe Trauer vermischen sich in diesen Tagen in Israel. Nach den fürchterlichen Nachrichten über den Tod von Shiri Bibas und ihren Kindern Ariel und Kfir sind am Samstag auch sechs israelische Geiseln nach Israel lebend zurückgekehrt.

Das zweite Waffenstillstands- und Geiselbefreiungs-Abkommen nach dem Massaker der Hamas am 7. Oktober 2023 beinhaltet die Freilassung von kleinen Gruppen von Verschleppten im Abstand von sieben Tagen. Die auf der Liste stehenden Personen, die innerhalb von 42 Tagen zurückgeführt werden sollen, sind sogenannte »humanitäre« Fälle: Frauen, Kinder, ältere Menschen und Kranke.

Nachdem sie im Gazastreifen von der Hamas an das Rote Kreuz übergeben werden, fliegt die israelische Armee sie in ein Krankenhaus im Zentrum des Landes, wo sie ihre Familienangehörigen treffen und mindestens einige Tage für medizinische Tests und zur Beobachtung bleiben.

Tal Shoham wurde mit seiner gesamten Familie entführt
Foto: picture alliance / ZUMAPRESS.com

Ein Nachbar sah, wie Terroristen Tal am Abend des 7. Oktober in ein Auto zerrten und mit ihm in Richtung Gaza fuhren. Es war das einzige Lebenszeichen, das die Familie von Tal Shoham von ihm hatte. »Der 7. Oktober dauert für uns bis heute an«, sagte sein Schwager Yuval Haran am Jahrestag des schwarzen Schabbats. »Wir können nur dann heilen, wenn Tal wieder bei uns zu Hause ist.«

»Er ist ein sehr sanfter Mann und durch und durch Familienmensch. Tal ist auch immer neugierig und liebt es, Dinge zu lernen, die er dann mit uns teilt. Mir fehlen die guten Gespräche mit ihm. Aber am meisten vermisse ich, ihn mit seinen Kindern und seiner Familie zu sehen«, so Haran weiter.

Yuval Haran: »Am meisten vermisse ich, ihn mit seinen Kindern und seiner Familie zu sehen.«

Tal, seine Frau Adi und ihre beiden Kinder waren ihrem Zuhause in Carmiel im Norden des Landes in den Kibbuz Be’eri gereist. Dort wollten sie das Wochenende mit Adis Großfamilie verbringen. Adi Shoham wuchs in Be’eri auf, ihre Eltern Shoshan und Avshalom Haran lebten dort. Nachdem sie am Morgen des 7. Oktobers während des Raketenbeschusses aus Gaza in den Sicherheitsraum geflüchtet waren, zündeten Terroristen der Hamas das Haus an und zwangen die Familie nach draußen. Dort erschossen sie Adis Vater Avshalom, kidnappten Tal und später auch den Rest der Familie.

Zehn Familienmitglieder galten nach dem Massaker als vermisst, darunter Adis Tante Lilach Kipnis und ihr Onkel Eviatar Kipnis. Ebenso die Schwester von Avshalom Haran, Sharon Avigdori, und ihre zwölfjährige Tochter Noam. Später wurden die sterblichen Überreste von Eviatar und Lilach Kipnis identifiziert. Die Leiche von Eviatars Betreuer Paul Castelvi wurde im Be’eri-Wald gefunden.

Tal ist österreichisch-israelischer Doppelstaatsbürger, seine Frau Adi und die beiden Kinder Yahel (3) und Nave (9) haben auch die deutsche Staatsangehörigkeit. Adi, Yahel und Nave kamen im November 2023 während des ersten Abkommens für einen Waffenstillstand und Geiselbefreiung nach Hause.

Omer Wenkert liebt es, Gäste zu bewirten
Tsili Wenkert, eine Holocaust-Überlebende und Großmutter von Omer Wenkert, kämpfte unermüdlich für seine FreilassungFoto: Copyright (c) Flash90 2023

Omer Wenkert liebt es, Gäste zu bewirten. Er arbeitete als Restaurantleiter und plante, Gastronomiemanagement zu studieren. Doch am 7. Oktober 2023 fanden all seine Träume ein jähes Ende. Die Hamas entführte den jungen Mann vom Nova-Festival in den Gazastreifen.

Während des Massakers rief Omer seine Eltern an und sagte, er habe »Todesangst«. Dann hörten sie nichts mehr und versuchten verzweifelt, herauszufinden, was mit ihrem Kind passiert war. Um 11.11 Uhr fanden sie ein grausames Video von Omer, der, nur mit einer Unterhose bekleidet, auf der Ladefläche eines Pick-ups lag. Gefesselt, im Blick das pure Entsetzen. Die Hamas-Terroristen hatten ihn als Geisel genommen. Seitdem kämpfte seine Familie täglich um Omers Leben. Auch seine Großmutter Tsili Wenkert, eine Holocaust-Überlebende, und zwei seiner Geschwister setzen sich unermüdlich für ihn ein.

Der 23-Jährige leide unter der Autoimmunkrankheit Colitis ulcerosa, berichtet sein Vater Shai Wenkert: »Unser Sohn braucht ständige medizinische Betreuung, diese Erkrankung ist wie eine tickende Zeitbombe. Sein Leben ist in Gefahr. Wir haben Angst. Jede Minute zählt – ja, jede Sekunde.« Die Familie nutzte jede Gelegenheit, um Druck auf alle Beteiligten auszuüben. »Omer war auf einer Party im Staat Israel – und der Staat Israel muss ihn nach Hause bringen.«

Ein Lebenszeichen von Omer kam im November 2023 – es war das einzige: »Durch den Geiseldeal vom November kam Liam Or nach Hause. Nach seiner Freilassung rief er uns an und erzählte, dass er mit Omer in einem tiefen, schrecklichen Tunnel ohne fließend Wasser und Toilette gewesen sei.« Die Nachricht sei furchtbar gewesen und habe doch Hoffnung gemacht. »Denn Liam sagte auch, dass Omer stark ist, und dass wir stark sein müssen. Und das sind wir – stark für ihn und alle Geiseln.«

Eliya Cohens Verlobte wartet auf ihn
In besseren Zeiten: Ziv Abud und Eliya CohenFoto: Privat

Eliya Cohen und Ziv Abud wollten tanzen gehen. Zusammen mit Zivs Neffen und einem Freund fuhren die Verlobten aus Tel Aviv zum Supernova-Festival in der Negevwüste. Als die Hamas in den frühen Morgenstunden des 7. Oktober angriff, flüchteten die vier in einen Luftschutzbunker am Straßenrand, der später als »Todesbunker« bekannt wurde. Mehr als 20 junge Menschen starben darin.

Abud und Cohen überlebten die Granaten, die die Hamas-Terroristen in den überfüllten Schutzraum warfen. Ihr Verlobter und sie hätten unter Leichen gelegen, erzählte Ziv später. Sie hätten sich totgestellt und an den Händen gehalten. Dann habe sie plötzlich gemerkt, dass Eliya an den Füßen herausgezogen wurde. Es waren die Terroristen. Für den jungen Mann begann der Weg in die Hölle.

Ziv Abud: »Anstatt in einem weißen Kleid mit Eliya unter der Chuppa zu stehen, trage ich ein gelbes Kleid und ein Schild, auf dem steht, dass mein Verlobter Geisel in Gaza ist.«

Ein von den Terroristen gefilmtes Video der grauenvollen Entführung von Eliya, Hersh Goldberg-Polin und Or Levy wurde auf Wunsch der Angehörigen veröffentlicht, um das Schicksal der Verschleppten zurück ins Bewusstsein der Öffentlichkeit zu bringen. Die Familien der jungen Männer sahen ihre Liebsten von der israelischen Regierung im Stich gelassen: »Hersh, Eliya und Or wurden lebend gefangen genommen und müssen noch heute lebend zurückkehren. Jeder Tag, der vergeht, bringt die Geiseln in größere Gefahr und verringert die Chance, sie sicher zurückzubringen«, flehten sie in einer Erklärung. Hersh wurde später von der Hamas ermordet, Or ist mittlerweile zu Hause.

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Ziv Abud brauchte keinen Weckruf – sie dachte jede Minute an ihren Eliya. Ihr Brautkleid hatte sie gelb gefärbt, die Farbe, die symbolisch für die Befreiung der Geiseln steht. Über ein Jahr lang hoffte sie jeden Tag inständig, dass er zu ihr zurückkehrt – und dass sie Hochzeit feiern können.

»So viele Tage sind vergangen, in denen die Geiseln von der Hamas gefangen gehalten werden. Tage, in denen sie kein Tageslicht gesehen haben und unter Hunger und unerbittlichen Misshandlungen leiden«, sagte sie auf dem Platz der Geiseln in Tel Aviv. »Anstatt in einem weißen Kleid mit Eliya unter der Chuppa zu stehen, trage ich ein gelbes Kleid und bin hier mit einem Schild, auf dem steht, dass mein Verlobter Geisel in Gaza ist.«

Shelly Shem Tov beschreibt ihren Sohn als »Sunnyboy«
Die Geisel Omer Shem Tov Foto: picture alliance / ZUMAPRESS.com

Als »Sunnyboy« beschreibt Shelly Shem Tov ihren Sohn Omer – »Jeled Schemesch Scheli«. Der 22-Jährige aus Herzliya ging mit Freunden auf dem Nova-Festival tanzen und auch er wurde am 7. Oktober von der Hamas verschleppt.

Der israelische Sänger und Pianist Orian Shukron traf Omers Mutter zufällig in Jerusalem. »Sie erzählte mir von ihrem Sohn, seiner Liebe zum Leben, zu Menschen und zur Musik.« Dabei habe er auch erfahren, dass Omer Asthmatiker und glutenempfindlich sei, menschliche Details, die den Künstler mit dem jungen Mann, den er nie getroffen hat, verbinden, da er ebenfalls Asthmatiker sei und die Musik und die Menschen liebe.

Das Treffen sei ihm nicht mehr aus dem Kopf gegangen. Also habe er sich an sein Klavier gesetzt und ein Lied geschrieben, das er »Jeled Schemesch Scheli« nannte. In Zusammenarbeit mit der Gemeinde Herzliya, wo die Shem Tovs leben, drehte er ein Video dazu mit Aufnahmen der Familie, die sich für ihren verschleppten Sohn und Bruder versammelt.

Es sind auch herzzerreißende Szenen aus dem Wohnhaus zu sehen. An der Haustür hängt das Vermisstenplakat von Omer, sein Zimmer ist genauso, wie er es am 6. Oktober verlassen hat: T-Shirts und Hosen liegen auf dem Boden, seine Gitarre steht daneben. Das Bett ist ungemacht, im Badezimmer nebenan hängt seine Badehose. Nichts wird daran verändert. Denn Shelly Shem Tov sagt, dass ihr Sohn sein Zimmer aufräumen und das Licht ausschalten werde, wenn er wieder nach Hause kommt.

Und Shukron singt: »Mein Sunnyboy, denk daran, dass du dein Zimmer im Chaos hinterlassen hast / Ich warte darauf, dass du kommst, um es aufzuräumen / Mein Sunnyboy, wann kommst du zurück, um zu strahlen? Mein Herz hier blutet, ist gebrochen. Nachts schlafe ich nicht, um Gottes Willen / Mein Sunnyboy, ich möchte, dass du für mich lächelst und singst. Leg deinen Kopf an meine Schulter, damit ich ihn streicheln kann / Mein Sunnyboy, ich liebe dich«

Avera Mengistu überquerte die Grenze zu Gaza freiwillig
Avera Mengistu hatte 2014 am Strand bei Zikim die Grenze zum Gazastreifen überquert. Foto: screenshot

Avera Mengistu kommt aus einer äthiopisch-stämmigen Familie in Aschkelon. Nach Angaben seiner Familie litt er an einer psychischen Erkrankung und wurde vom Militärdienst befreit.

Der heute 38-jährige wurde in Gondar in Äthiopien geboren. Am 7. September 2014 habe er, wie seine Familie angab, eigenständig die Grenze zu Gaza überquert. Dort wurde er von der Hamas gekidnappt und verhört. Später sei Lösegeld für ihn verlangt worden. Seine Familie gab an, er sei psychisch instabil und in der Vergangenheit in einer psychiatrischen Klinik untergebracht gewesen. An jenem verhängnisvollen Tag habe er eine psychotische Episode erlitten, sei aus der Tür gegangen und verschwunden.

»Wir wissen, dass er lebt und sich wahrscheinlich in einem schlechten geistigen und körperlichen Zustand befindet.«

Mengistus Familie hat im Laufe der Jahre darum gekämpft, öffentliche Unterstützung zu gewinnen oder Druck auf die Regierung auszuüben, um über Averas Freilassung zu verhandeln. Einige Verwandte warfen ihr Rassismus vor und verglichen seine Lage mit der des Soldaten Gilad Shalit, der 2011 im Austausch gegen mehr als 1000 palästinensische Häftlinge freigelassen wurde. »Es fühlt sich an, als ob Averas Leben nichts wert ist«, sagte sie oft.

»Wir wissen, dass er lebt und sich wahrscheinlich in einem schlechten geistigen und körperlichen Zustand befindet«, meinte ein Verwandter bei einer Kundgebung auf dem Platz der Geiseln in Tel Aviv. »Er ist nicht erst seit einem Monat oder einem Jahr dort, sondern seit über 10 Jahren.«

Hisham Al-Sayed ist ein 37-jähriger israelischer Beduine
Foto: picture alliance / Sipa USA

Hisham Al-Sayed, ein 37-jähriger israelischer Beduine aus dem Dorf Hura in der Negev-Wüste, betrat den Gazastreifen im April 2015 in der Nähe des Grenzübergangs Erez ebenfalls freiwillig. Laut seinem Vater war dies nicht sein erster »Besuch« dort. Beim letzten Mal aber sei er von der Hamas aufgehalten und in Gewahrsam genommen worden.

Wie Avera Mengistu, so leidet auch Hisham an einer psychischen Erkrankung. Er diente kurz im israelischen Militär, wurde aber nach kurzer Zeit entlassen.

Laut Human Rights Watch sei bei ihm in den Jahren vor seinem Gang nach Gaza »unter anderem Schizophrenie und eine Persönlichkeitsstörung« diagnostiziert worden. Er war mehrfach in Kliniken untergebracht. In einem Fall entkam er aus einem Krankenhaus und schaffte es beinahe nach Gaza, bevor er aufgehalten wurde, so die Gruppe, die seine Krankenakte untersucht hatte.

Von Al-Sayed hörte man erst im Jahr 2022 etwas, als die Hamas ein Video veröffentlichte, das ihn krank schwach in einem Bett zeigt, auf Mund und Nase eine Sauerstoffmaske, was in Israel Entsetzen auslöste.

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