Sie sind wieder da, die Zelte auf dem Rothschild-Boulevard im Zentrum von Tel Aviv. Zwar nicht so viele wie vor knapp dreieinhalb Jahren. »Aber deshalb ist dieser Protest nicht weniger wichtig«, sagt Imri, der die Nacht in einem der 23 Zelte am nördlichen Ende des Boulevards verbracht hat. »Es war ganz schön laut, weil sie direkt an der Kreuzung stehen«, erzählt der 18-Jährige, »aber geschlafen habe ich trotzdem ganz gut.«
In ein paar Monaten wird er seinen Armeedienst antreten: »Derzeit sind wir in einem Vorbereitungsprogramm. Wir sollten in dieser Woche etwas tun, was wir noch nie gemacht haben, und ich und meine Freunde haben deshalb gesagt, wir gehen nach Tel Aviv und machen bei der Protestaktion mit. Auch wenn wir erst in frühestens drei Jahren eine Wohnung suchen müssen, machen wir uns jetzt schon Sorgen, ob wir uns das werden leisten können.«
Kater An diesem sonnigen Montagnachmittag, dem ersten Protesttag, sitzen einige junge Leute auf den ausgelegten Matten, gleich neben dem Pavillon mit dem kleinen Tisch, auf dem noch ein paar Getränke und Pappbecher vom Vorabend stehen. Andere Aktivisten unterhalten sich mit Passanten, der DJ, der am Vorabend aufgelegt hat, lässt House Music laufen, zu der aber nur zwei Leute tanzen. Es herrscht Katerstimmung. Denn der Zeltprotest startete am Abend zuvor auch als Geburtstagsparty – für den Organisator Shay Cohen.
Ein paar Wochen vor seinem 40. Geburtstag diskutierte Cohen mit Freunden – nicht nur darüber, wie man so einen runden Geburtstag wohl am besten feiert. Sondern auch über das Problem, dass er sich selbst mit 40 Jahren noch immer keine Wohnung kaufen kann. »Ich lebe mit meiner Familie in Givatayim zur Miete. Meine Frau und ich sind beide voll berufstätig. Und dennoch sind die Wohnungspreise für uns viel zu hoch«, sagt Shay Cohen.
Und so kam ihm und seinen Freunden die Idee, das Geburtstagsfest mit einem neuen Zeltprotest zu verbinden. Von der Stadtverwaltung holten sie sich eine Genehmigung für zunächst 48 Stunden mit der Option zur Verlängerung, sollten die Proteste ohne Zwischenfälle verlaufen.
Unter dem Slogan »Ich bin 40 und habe noch keine Wohnung« lud Shay Cohen auf Facebook zu der Aktion ein. »Insgesamt waren gestern Abend vielleicht rund 300 Leute da«, erzählt er. »Meine Frau ist dann am Abend mit den Kindern nach Hause, ich habe die Nacht im Zelt verbracht. Meine geschäftlichen Termine habe ich heute teilweise hierher verlegt«, erzählt Shay, der für die Gewerkschaft Koach Le Ovadim arbeitet. »Das Land steckt mitten im Wahlkampf. Aber wir fühlen uns mit diesem Problem alleingelassen. Es gibt keine wirklichen Lösungsvorschläge.«
Unterstützer Dass der Protest ausgerechnet jetzt, zwei Wochen vor der Wahl, beginnt, nährt das Gerücht, es handle sich um eine von der Arbeitspartei finanzierte Aktion. Doch Shay Cohen streitet das ab. »Es stimmt, dass ich Mitglied in der Partei bin, seit 1998. Aber das hat nichts mit dem Protest hier zu tun. Im Gegenteil: Ich wäre ja froh, hätten wir finanzielle Unterstützer.«
Ein paar Sympathisanten, die zumindest ihre Zeit spenden, sind an diesem Nachmittag zu den Zelten gekommen. »Wir haben im Radio und auf Facebook von der Aktion gehört und gelesen und dachten, wir schauen uns das mal an«, sagt die 27-jährige Tomer. Sie und Bar, ebenfalls 27, studieren beide noch und leben in dem kleinen Ort Azor südlich von Tel Aviv, weil sie sich die hohen Tel Aviver Mietpreise nicht leisten können.
Dem Wohnungsproblem wird in diesem Wahlkampf zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt, finden sie. Ihre Freundin Iris ist heute aus dem Norden nach Tel Aviv gekommen. »Auch dort sind die Mieten viel zu hoch«, sagt die 25-Jährige, die schon 2011 bei den Zeltprotesten in Tiberias dabei war. »Damals habe ich verstanden, dass es nicht nur ein persönliches, sondern ein gesellschaftliches Problem ist. Wir haben eine Diskussion angestoßen«, erinnert sie sich. »Nach der letzten Wahl dann habe ich meine Hoffnung fast verloren. Aber es bleibt ja immer noch so ein kleiner Hoffnungsschimmer, an den man sich klammert«, sagt sie.
Bericht Der Bericht über die Wohnsituation in Israel, den der staatliche Rechnungsprüfer Yosef Shapira in der vergangene Woche veröffentlichte, bietet allerdings eine düstere Prognose: Die schlechte Politik und die Nichtbeachtung der Mittelklasse könnten sich verheerend auf die gesamte Wirtschaftslage auswirken. Es mangele an Zehntausenden Wohnungen. Maß- nahmen gegen die hohen Miet- und Kaufpreise für Wohnraum gebe es bisher nur auf dem Papier, heißt es laut Medienberichten in dem knapp 300 Seiten umfassenden Gutachten.
Doch nicht nur das: Nachdem der Bericht des Rechnungsprüfers über die Ausgaben des Premierministers und seiner Familie veröffentlicht wurde, steht Bibi in der Kritik: Den Netanjahus wird ein ausschweifender Lebensstil in ihren beiden Häusern sowie Verschwendung vorgeworfen. Viele Israelis sind darüber verärgert. »Es klingt nach einer dieser politischen Comedyshows, in denen sie sich über die Politiker lustig machen und übertreiben. Aber es ist eine Tatsache«, sagt die 20-jährige Yasmine, die an diesem Nachmittag ebenfalls bei den Protestzelten vorbeischaut. »Und ich muss noch bei meiner Mutter leben, weil ich mir nichts Eigenes leisten kann.« Derzeit bereitet sie sich auf ihr Studium vor. »Ich möchte trotz der Preise hier in Tel Aviv bleiben. Auch wenn alles aussichtslos erscheint: Ich glaube daran, dass es besser wird.«