Der Norden brennt. Die Zeit drängt. Obwohl immer wieder versichert wird, dass weder Israel noch der Libanon einen richtigen Krieg wollen, scheint eine diplomatische Lösung nicht in greifbarer Nähe. »Es wird knapp«, brachte es Benny Gantz, Vorsitzender des Bündnisses Nationale Einheit, bei seinem Treffen mit dem US-Sondergesandten für den Nahen Osten, Amos Hochstein, am Montag auf den Punkt. Der Vermittler war erneut in die Region gereist, um einen Krieg doch noch auf diplomatischem Weg zu verhindern.
Erste Station sollte Israel sein, wo er sich zu Gesprächen mit Ministerpräsident Benjamin Netanjahu und Präsident Isaac Herzog traf. Über die Inhalte dieser Unterredungen drang nichts nach außen. Lediglich Gantz veröffentlichte eine Erklärung: Er habe gegenüber Hochstein betont, dass man entschlossen sei, »die Bedrohung zu beseitigen, die die Hisbollah für die Bürger Nordisraels darstellt, und zwar unabhängig von den Entwicklungen des Krieges in Gaza«.
Gantz, der die Notstandsregierung in Jerusalem in der vergangenen Woche verlassen hatte, sagte, er werde »jede verantwortungsvolle und wirksame politische oder militärische Entscheidung in dieser Angelegenheit auch aus der Opposition heraus unterstützen«. Tags darauf reiste Hochstein in den Libanon weiter.
Gefordert wird der Rückzug der Hisbollah auf zehn Kilometer vor der israelischen Grenze.
Dort forderte Hochstein eine »dringende Deeskalation« der extrem angespannten Lage. »Es liegt im Interesse aller, den Konflikt zwischen Israel und der Hisbollah schnell und diplomatisch zu lösen«, sagte der US-Gesandte und fügte hinzu, dass dies erreichbar sei. »Ein Waffenstillstand in Gaza und/oder eine alternative diplomatische Lösung würde auch den Konflikt jenseits der Blauen Linie beenden und die Rückkehr der vertriebenen Zivilisten in den Südlibanon und den Norden Israels ermöglichen.«
Umfangreichster Angriff seit Beginn des Krieges
Doch danach sieht es im Moment nicht aus. Erst Mitte vergangener Woche war die Lage an der Grenze in Israels Norden dramatisch eskaliert, als die Schiitenmiliz Hisbollah nach Angaben der Armee mehr als 170 Geschosse auf israelisches Gebiet abgefeuert hatte.
Eine der Schiitenmiliz nahestehende Quelle erklärte gegenüber der Nachrichtenagentur Reuters, dass dies der umfangreichste Angriff auf Israel gewesen sei, den die Terrorgruppe seit Beginn des Krieges in Gaza durchgeführt habe. Demzufolge habe sie dabei 30 Drohnen, 150 Raketen sowie weitere Geschosse eingesetzt.
Nach eigenen Angaben sollen militärische Einrichtungen ins Visier genommen worden sein. Der Angriff sei eine Reaktion auf die Ermordung von Taleb Sami Abdullah gewesen. Die Tötung des bislang ranghöchsten Hisbollah-Mitglieds durch Israel im aktuellen Konflikt war am Dienstagabend vergangener Woche durch einen Luftangriff auf ein Gebäude im Libanon durchgeführt worden. Der anschließend einsetzende Beschuss durch die Hisbollah erreichte sogar den See Genezareth.
Große Feuer durch Einschläge oder das Abfangen der Geschosse
An mindestens 15 Orten waren durch Einschläge oder das Abfangen der Geschosse große Feuer ausgebrochen. Erschwerend bei der Brandbekämpfung kam hinzu, dass der diesjährige Juni wohl der heißeste seit Beginn der Wetteraufzeichnung in der Region ist. Seit Anfang des Monats fielen entlang der nördlichen Grenze mehr als 45 Quadratkilometer Fläche den Flammen zum Opfer.
Die Hälfte der betroffenen Gebiete, die durch Raketen in Brand gesteckt wurden, befindet sich in Naturschutzgebieten und Nationalparks in Galiläa und auf den Golanhöhen. Doch die Raketen haben nicht nur Folgen für die Natur. Auf israelischer Seite fanden bereits zehn Zivilisten sowie 15 israelischen Soldaten und Reservisten den Tod.
Theoretisch wollen alle involvierten Parteien – Israel, die USA, die libanesische Regierung, die Hisbollah und auch der Iran – die Kämpfe beenden, meint der Libanon-Experte der Hebräischen Universität, Eitan Ishai. Es liegen sogar mehrere Lösungsvorschläge auf dem Tisch. Unter anderem einer, der Anfang des Jahres in Paris vorgelegt worden war.
Im Rahmen der diplomatischen Bemühungen, die Spannungen abzubauen, hatten sich die Vereinigten Staaten, Frankreich sowie Israel zur Zusammenarbeit entschlossen, um diesen Plan für eine Deeskalation umzusetzen, erklärte der französische Präsident Emmanuel Macron vor einigen Tagen. »Es ist das Prinzip einer trilateralen Gruppe, und wir werden dasselbe mit den libanesischen Behörden tun.« Am Freitag jedoch schloss Verteidigungsminister Yoav Gallant eine Beteiligung Israels an dieser Gruppe aus.
Stationierung einer internationalen Truppe
Sämtliche Vorschläge fordern den Rückzug der Hisbollah auf etwa zehn Kilometer vor der israelischen Grenze und einen sofortigen Waffenstillstand. In dem von der Hisbollah verlassenen Gebiet soll eine internationale Truppe stationiert werden, der sich in einer zweiten Phase speziell ausgebildete Soldaten der libanesischen Armee anschließen könnten. Zur selben Zeit sollen endgültige Verhandlungen über die Grenzziehung zwischen Israel und dem Libanon unter amerikanischer oder französisch-amerikanischer Vermittlung beginnen.
Angesichts der Eskalation an der Nordgrenze traf sich Gesundheitsminister Uriel Busso mit den Direktoren der Krankenhäuser in der Region. Danach wurde bekannt, dass man die Zahl der Patienten vor Ort aufgrund der immanenten Gefahr reduzieren möchte, weshalb viele in andere Hospitäler verlegt werden sollen.
»Die zunehmenden Aggressionen der Hisbollah bringen uns an den Rand einer möglicherweise noch größeren Eskalation, die verheerende Folgen für den Libanon sowie die gesamte Region haben könnte. Irans Terrorstellvertreter reißen die Region weiterhin in den Abgrund«, so Israels Armeesprecher Daniel Hagari am Wochenbeginn. »Die Zukunft des Libanon wird gefährdet, nur damit dieser als Schutzschild für die Hamas dienen kann.«
Seit dem 7. Oktober feuerte die Hisbollah nach Angaben der Armee über 5000 Raketen, Panzerabwehrraketen und explosive Drohnen aus dem Libanon auf israelische Gemeinden.
Seit dem 7. Oktober feuerte die Hisbollah nach Angaben der Armee über 5000 Raketen, Panzerabwehrraketen und explosive Drohnen aus dem Libanon auf israelische Gemeinden. »Wenn wir sagen, dass wir nicht zulassen werden, dass sich der 7. Oktober 2023 an einer unserer Grenzen wiederholt, dann meinen wir das auch so.«
Die Hisbollah weigert sich beharrlich, der Resolution 1701 des UN-Sicherheitsrates Folge zu leisten, die 2006 den Zweiten Libanonkrieg beenden sollte und den Rückzug der Terrorgruppe nördlich des Litani-Flusses vorschrieb. Aufgrund der Tatsache, dass das Gebiet südlich davon zum von Waffen starrenden Aufmarschgebiet der Hisbollah wurde, werde Israel alle notwendigen Maßnahmen ergreifen, um seine Zivilisten zu schützen, »bis die Sicherheit entlang unserer Grenze zum Libanon wiederhergestellt ist«, erläuterte Hagari.
Kurz vor Hochsteins Reise in die Region hatte das Weiße Haus noch eine Botschaft an Israel gesandt: »Unternehmen Sie nichts im Norden!« Matthew Miller, Sprecher des US-Außenministeriums, betonte jedoch, dass sich die Situation durch die zahlreichen Angriffe der Hisbollah auf zivile Ziele massiv verschärft hätte und diese Attacken »untragbar« seien. Ebenso wie die Situation der libanesischen Zivilisten, die gleichfalls unter den Folgen der grenzüberschreitenden Gewalt leiden würden. »Es ist also eine Situation, die gelöst werden muss. Wir ziehen es vor, sie diplomatisch zu lösen, und das ist auch Israels Präferenz – das haben sie öffentlich und privat erklärt.«