Wer durch israelische Städte spaziert, egal, ob Haifa, Jerusalem oder Rosh Haayin, sieht sie auf jedem großen Platz: die weißen Zelte von Magen David Adom oder einem der Krankenhäuser. Schilder weisen den Weg: »Für Impfungen hier anstellen«, »Corona-Tests hier entlang«.
Vor jedem Zelt bilden sich Schlangen von Wartenden, manchmal Hunderte Meter lang. Über Israel schwappt die Omikron-Welle, und die Menschen versuchen krampfhaft, im Wirbel der sich fast täglich ändernden Richtlinien noch irgendetwas zu verstehen.
test »Balagan«, also Chaos, ist das Wort der Stunde. Oft liefern die Vorgaben der Regierung mehr Fragen als Antworten. Schier endlose Diskussionen, »wer, wo und wann einen Test machen muss«, ziehen sich durch WhatsApp-Gruppen. »Ich musste mich in einer Woche dreimal testen lassen«, erzählt Yuval Barsilay aus Ramat Hascharon. »Zweimal war jemand im Büro positiv, einmal in einer Bar. Ich war immer negativ. Aber das positive Ergebnis ist wohl nur noch eine Frage der Zeit.«
»Balagan«, also Chaos, ist das Wort der Stunde.
So sehen es viele. Während die Regierung bereits davon auszugehen scheint, dass gegen diese Welle weder Lockdowns noch Grenzschließungen helfen, macht sich langsam auch in der Bevölkerung eine »Augen zu und durch«-Mentalität breit.
Der Minister für regionale Zusammenarbeit, Esawi Frej, erklärte am Dienstag, die neuesten Zahlen zeigten, dass man auf eine »Herdenimmunität« zusteuere. »Nach den uns vorliegenden Informationen wird erwartet, dass in den nächsten drei Wochen zwei bis vier Millionen Menschen positiv getestet werden. Warum sollten wir also unseren Kopf wie ein Strauß in den Sand stecken? Die Pandemie erreicht alle.«
abriegelung Frej räumte außerdem ein, dass die Regierung nicht mehr in der Lage sei, alle erforderlichen Tests durchzuführen. »Wir haben nicht genug PCR-Tests und ein Problem mit Laboren.« Eine Abriegelung der Wirtschaft würde mehr schaden als nützen, so Frej. Daher rief er die Bevölkerung auf, die Vorgaben einzuhalten. »Das Verhalten der Öffentlichkeit ist wichtiger als alles, was wir tun. Jeder Einzelne wird die Richtung dieser Pandemie bestimmen.«
Israel hat nach Angaben des Gesundheitsministeriums vom Mittwoch ein neues Rekordhoch bei den täglichen Coronavirus-Fällen erreicht: mehr als 41.000 neue Infektionen. Die vergangenen sieben Tage haben jeweils den Tagesrekord gebrochen, der vor der aktuellen Welle der Omikron-Variante bei 11.335 lag.
Die Zahl der schweren Fälle stieg auf 253, ein Plus von sechs gegenüber dem Vortag. Die Testpositivrate lag bei fast elf Prozent. Experten gehen davon aus, dass eine Vielzahl der Fälle unentdeckt bleibt, da Israel die PCR-Tests durch Antigentests ersetzt hat, für vollständig Geimpfte ohne Symptome sogar als Heimtest.
flurona Bei den neuen Fällen handle es sich jedoch nicht nur um Omikron, sondern auch um den noch gefährlicheren Delta-Stamm. Gepaart mit den vermehrten Grippe-Erkrankungen, die ebenfalls derzeit durch Israel schwappen, sorgen sich Mediziner über den Zwillingseffekt, den sie als »Flurona« bezeichnen – ein Kofferwort aus dem englischen »Flu« für Grippe und Corona. Der könnte nach ihrer Meinung das Gesundheitssystem überfordern.
Nachdem in den vergangenen zwei Wintern Grippefälle in Israel praktisch nicht vorkamen, werden die neuen Fallzahlen als besorgniserregend angesehen. Verstärkt werde dies durch die geringe Impfbereitschaft der Menschen, wenn es um die Grippe gehe, so Mediziner. Die Krankenkasse Leumit gibt an, dass die Anzahl dieser Impfungen um fast ein Drittel zurückgegangen sei. Die anderen Kassen sehen eine ähnliche Impfmüdigkeit.
Ein weiteres Problem könnte die ausufernde Zahl an Personen darstellen, die sich in Corona-Quarantäne befinden. Derzeit sind es mehr als 166.000. Einige sprechen bereits von einem »De-facto-Lockdown«. Die Regierung erwägt jetzt eine kürzere Isolationszeit für bestätigte Virusträger, um den Schaden für die Wirtschaft zu minimieren. Der Vorsitzende der Schulleitergewerkschaft, Menasche Levi, weiß, dass fast die Hälfte aller Gymnasiasten derzeit im Unterricht fehlt. »Jeder wird entweder getestet, ist in Heimisolierung oder hat sich entschieden, wegen der hohen Antsteckungswahrscheinlichkeit nicht zu kommen.«
prognosen Professor Ronny Gamzu, Direktor des Ichilow-Krankenhauses, fordert unterdessen, die Regierung solle aufhören, die Menschen wegen Corona einzuschüchtern. »Wir müssen jetzt unser Leben leben.« Er weist Prognosen zurück, dass Krankenhäuser im ganzen Land zusammenbrechen werden. »Die medizinischen Zentren wissen, wie man mit der Belastung umgeht.«
Einige sprechen bereits von einem »De-facto-Lockdown«.
Vor allem gehe es jetzt darum, die Impfrate zu erhöhen. Auch die Regierung fordert alle Bevölkerungsgruppen auf, sich impfen zu lassen. Die Spritzen gegen das Virus stehen allen Personen ab fünf Jahren zur Verfügung. Von Israels 9,3 Millionen Einwohnern haben knapp 6,64 Millionen mindestens eine Impfdosis erhalten, nahezu sechs Millionen auch eine zweite Dosis und 4,35 Millionen zusätzlich den Booster.
warteschlangen Gamzu kritisierte das Gesundheitsministerium für die Entscheidung, PCR-Tests nur für Personen über 60 Jahre oder mit einem hohen Risiko bereitzustellen. »Wenn es lange Warteschlangen gibt, müssen wir die Funktionsweise der Einrichtungen ändern und nicht die Tests einstellen«, meint er. »Sie sind auch bei dieser Variante von entscheidender Bedeutung.«
Die Regierung müsse verstehen, dass die Omikron-Welle spezifische Maßnahmen und eine besondere Geisteshaltung erfordere: »Es bedeutet, die Quarantäne auf sieben Tage und vielleicht sogar fünf zu verkürzen. Die größten Herausforderungen bestehen darin, keine De-facto-Abriegelung zu schaffen und in der Öffentlichkeit nicht übermäßige Angst zu erzeugen.«
Auch stimme er den Aussagen einiger Regierungs- und Gesundheitsbehörden nicht zu, dass Bewegungsfreiheit und Versammlungen eingeschränkt werden sollten. »Israel muss weiterhin mit dieser Pandemie leben, sie richtig und klug managen.« Dazu dienten Tests, Impfungen und die Ausstattung sowie Vorbereitung der Krankenhäuser. »Die Bürger müssen atmen, leben, ihren Lebensunterhalt verdienen und gebildet werden. Kulturelles und soziales Leben, Bewegung – das alles muss existieren.«