Uwe Becker wollte es mit eigenen Augen ansehen. Am Dienstag war Hessens Antisemitismusbeauftragter und Staatssekretär für Bundes- und Europaangelegenheiten in Israel und besuchte auch den Kibbuz Kfar Aza, den die Hamas am 7. Oktober angegriffen hatte. Anschließend kam über die offene Grenze aus Gaza zusätzlich ein Mob, der weitere Gräueltaten an den Bewohnern des Kibbuzes verübte.
Kfar Azar liegt nur wenige Kilometer vom Gazastreifen entfernt. 800 Bewohner lebten dort bis zum 7. Oktober. Jetzt gleicht der Ort einer Trümmerwüste. Uwe Becker: »Viele Gebäude wurden total zerstört. Ganze Häuserzeilen sind ausgebrannt, es wurden Türen und Fenster rausgesprengt. Vieles muss neu aufgebaut werden.« Die überlebenden Einwohner der Siedlung wurden evakuiert und in Hotels in Tel Aviv, am Toten Meer und in anderen Landesteilen untergebracht. Noch ist kaum einer von ihnen dorthin zurückgekehrt.
Der 7. Oktober sei für viele ein so einschneidendes Erlebnis gewesen, dass noch unklar sei, ob der Kibbuz Kfar Aza irgendwann wieder so werden wird wie vor dem Massaker. »Ich habe mit verschiedenen Leuten gesprochen, auch solche, die ich schon vorher kannte, die früher sehr lebensbejahend waren und sich bewusst für ein Leben dort im Kibbuz entschieden haben, und die waren sehr klar in ihrer Aussage: Solange das mit dem Gazastreifen nicht ›geregelt‹ ist, solange die Hamas nicht ausgeschaltet ist, haben die keine Absichten, da wieder hinzugehen, denn sie können nachts nicht mehr ruhig schlafen.«
Bewohner des Kibbuz fühlen sich verraten
Ein weiterer Aspekt kommt hinzu: In Kfar Aza fühle man sich verraten. Einige der dort beschäftigten palästinensischen Arbeiter aus Gaza hätten detailgenaue Pläne des Kibbuz und der Häuser an die Hamas weitergegeben, was es den Terroristen am Morgen des 7. Oktober erlaubt habe, mit tödlicher Präzision zuzuschlagen. »Mir wurde von Bewohnern des Kibbuz gesagt, dass die Terroristen sehr genau informiert gewesen seien darüber, wer in welchem Haus wohne und wo sich die Schutzräume befänden. Die Angreifer fragten sogar explizit nach, warum bestimmte Personen nicht zu Hause anzutreffen seien. Sowas geht nur mit Insiderwissen«, sagt Becker. Die Terroristen seien plan- und kommandomäßig vorgegangen. Zudem sei Stunden später ein großer Mob aus Gaza in Kfar Aza eingedrungen und habe dort geplündert und gebrandschatzt.
Zwar hat die israelische Armee den Ort mehr als fünf Wochen nach der Tat mittlerweile freigegeben. Doch immer noch seien Teams dort zugange, um nach menschlichen Überresten zu suchen, erzählt Becker.
»Es liegt eine Schwere auf der Stadt«
Der ehemalige Präsident der Deutsch-Israelischen Gesellschaft hat Israel schon häufig besucht. Doch in den vergangenen 20 Jahren habe er das Land noch nie so niedergeschlagen erlebt, erzählt Uwe Becker. »Viele Menschen befinden sich in einer Mischung aus Hoffnung und Trauma. Hoffnung, was die Geiseln in Gaza angeht, aber auch Trauma über die fürchterlichen Dinge, die geschehen sind und die man nicht verhindert hat.«
»Gerade in Tel Aviv spürt man das. Es liegt eine Schwere auf der Stadt. Bei früheren Konflikten war Tel Aviv immer so eine Art Bubble, das Leben ging irgendwie weiter. Aber die Blase ist jetzt geplatzt. In den Restaurants und auf den Straßen sind längst nicht so viele Menschen unterwegs wie früher. Es werden ja auch nach wie vor Raketen auf die Stadt abgefeuert. Und jeder kennt irgendein Opfer der Anschläge oder einen ihrer Angehörigen. Die Hotels der Stadt sind voll mit Evakuierten, auch aus dem Norden, und viele Israelis haben Angehörige, die beim Militär sind. Und fast an jedem Baum hängt ein Plakatmotiv mit den Konterfeis der Entführten.«
Becker traf sich in Tel Aviv auch mit dem dortigen Bürgermeister Ron Huldai und weiteren Kommunalpolitikern. Der ehemalige Frankfurter Finanzbürgermeister, der Anfang des Jahres in der Stichwahl für das Amt des Oberbürgermeisters der Mainmetropole den Kürzeren zog, sagte, im Moment seien es überwiegend die Kommunen und nichtstaatliche Organisationen, die die Probleme zu bewältigen hätten.
Die Netanjahu-Regierung werde dagegen sehr skeptisch beäugt, so Becker. »Ich spüre eine Enttäuschung über die Politik. Vieles von dem, was gerade passiert, wird von der Zivilbevölkerung oder von den Kommunen gemanagt, zum Beispiel die Unterbringung der Evakuierten, das Sammeln von Spenden, die psychosoziale Betreuung der Überlebenden, den Schulunterricht für Kinder und so weiter.« Es gebe aber eine enorme Solidarität im Land, und die beziehe auch die Armee mit ein. »Das Militär erscheint in den Augen der Bevölkerung jetzt wieder als stark«, schildert Becker.
Aus dem Ausland, so der Besucher, wünsche man sich mehr Verständnis. »Die Israelis fragen sich – meines Erachtens zu Recht – wo die ganzen internationalen Frauenrechts- und Kinderschutzorganisationen, wo überhaupt die Vereinten Nationen waren, als am 7. Oktober massenhaft Frauen vergewaltigt und Kinder barbarisch ermordet wurden. Da war ein riesengroßes Schweigen.« Wer Kfar Aza gesehen habe, sagt Uwe Becker, werde die schrecklichen Bilder nie mehr vergessen.