Letztendlich war es wohl der berühmte Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte. Denn die Gerüchteküche brodelte bereits seit Monaten. Am Dienstagabend erklärte Ministerpräsident Benjamin Netanjahu, dass er seinen Verteidigungsminister Yoav Gallant entlässt.
»Obwohl in den ersten Monaten des Krieges Vertrauen herrschte und die Arbeit sehr fruchtbar war, ist dieses Vertrauen zwischen mir und dem Verteidigungsminister in den vergangenen Monaten leider zerbrochen«, schrieb Netanjahu, nachdem er Gallant einen Brief überreicht hatte, in dem steht, dass seine Dienstzeit in 48 Stunden beendet sein werde. Gallant habe Entscheidungen getroffen und Erklärungen abgegeben, die den Entscheidungen des Kabinetts widersprochen hätten, führte der Ministerpräsident aus. Die meisten Kabinettsmitglieder hätten der Entlassung zugestimmt.
Mit einer der »Entscheidungen« meint Netanjahu sicherlich den Aufruf, den Gallant am Tag seines Rauswurfs verkündet hatte und der sicherlich den letzten »Tropfen« für Netanjahu darstellte. Damit wollte der Verteidigungsminister 7000 ultraorthodoxe junge Männer in die Armee einziehen. Nach mehr als einem Jahr des Krieges benötigt die IDF dringend neue Soldaten. Doch die ultraorthodoxen Parteien erzwangen mit ihren wiederholten Drohungen, aus der Regierung auszuscheiden, einen Gesetzesentwurf, der ihre jungen Männer weiterhin von der Armee befreit.
Aufgewühlter Gallant
Währenddessen wird der Druck auf die Reservisten, die zum Teil seit Kriegsbeginn im Dienst stehen und an drei Fronten kämpfen, zusehends größer. Gallant hatte sich immer wieder gegen eine generelle Befreiung für streng religiöse Männer ausgesprochen und gewarnt, dass er eine derartige Gesetzgebung nicht unterzeichnen werde. Damit jedoch hatte er nicht nur den Zorn der Ultraorthodoxen auf sich gezogen, sondern auch den des Premierministers, der die charedischen Parteien Vereinigtes Tora-Judentum und Schas für das Überleben seiner Koalition benötigt.
In einer Ansprache am selben Abend nannte Gallant drei Gründe, die zu seiner Entlassung geführt hätten: »Meine feste Haltung zur allgemeinen Wehrpflicht, meine Verpflichtung, die Geiseln freizubekommen, und meine Forderung nach einer staatlichen Untersuchungskommission zu den Versäumnissen des 7. Oktober«. Sichtlich aufgewühlt fügte er hinzu: »Die Sicherheit des Staates Israel war immer die Mission meines Lebens und wird es immer bleiben.«
An Gallants Stelle setzte Netanjahu Außenminister Israel Katz ein, einen Loyalisten ohne umfassende militärische Erfahrung, der allerdings voll und ganz auf Linie ist. Das Außenministerium übernimmt Gideon Saar von Katz. Saar, ein ehemaliger Netanjahu-Herausforderer und späterer Kritiker, war der Koalition erst vor wenigen Wochen aus der Opposition beigetreten.
»Das Letzte, was der Staat Israel jetzt braucht, ist Aufruhr und ein Bruch mitten im Krieg.«
Isaac Herzog
Seit mehr als einem Jahr kämpft Israel in einem Mehrfrontenkrieg gegen die islamistische Hamas im Gazastreifen und die Schiitenmiliz Hisbollah im Libanon. Zudem wird es vom Iran sowie mit Teheran verbündeten Terrororganisationen im Jemen und Irak bedroht.
Im März 2023 hatte Netanjahu Gallant schon einmal entlassen, nachdem dieser dazu aufgerufen hatte, die umstrittene »Justizreform« der Koalition auszusetzen, die seiner Meinung nach zu Spaltungen in der israelischen Gesellschaft führte. »Und das«, so Gallant damals, »ist eine große Bedrohung für die Sicherheit Israels.« Doch wurde er weniger als einen Monat später wieder eingestellt, nachdem es im Land einen Generalstreik und Massenproteste gegeben hatte. Gallant stand an der Spitze des Verteidigungsministeriums, als die Hamas am 7. Oktober vergangenen Jahres ihre blutigen Massaker in Südisrael mit mehr als 1200 Toten und 251 Geiseln verübte.
Zehntausende auf den Straßen
Auch diesmal protestierten Zehntausende Menschen spontan am Dienstagabend in verschiedenen Städten gegen Gallants Entlassung. Die Ayalon-Stadtautobahn in Tel Aviv war mehr als vier Stunden lang blockiert, bevor die Polizei die Demonstranten gewaltsam entfernte und 40 von ihnen festnahm. Auch in Jerusalem und Haifa kam es zu Protesten. Zum ersten Mal setzte die Polizei bei Protesten in Tel Aviv sogenannte Skunk-Wasserwerfer ein, die neben Wasser auch ein nichttödliches, aber extrem übel riechendes Kampfmittel versprühen, um Demonstrationen aufzulösen.
Präsident Isaac Herzog rief zur Einigkeit auf. »Das Letzte, was der Staat Israel jetzt braucht, ist Aufruhr und ein Bruch mitten im Krieg. Die Sicherheit des Staates muss an erster Stelle stehen«, schrieb er in den sozialen Medien. »Wir befinden uns in einer der schwierigsten und herausforderndsten Zeiten, die wir je erlebt haben. Israels Feinde warten nur auf ein Zeichen von Schwäche, Zerfall oder Spaltung.«
Unterdessen kursieren Gerüchte, dass Netanjahu auch die Chefs der Armee, Herzi Halevi, und des Inlandsgeheimdienstes Schin Bet, Ronen Bar, entlassen wolle. Netanjahus Büro dementierte dies.
Der Nationale Sicherheitsrat des Weißen Hauses erklärte laut »Washington Post«, Gallant sei ein wichtiger Partner gewesen »in allen Angelegenheiten, die die Verteidigung Israels betreffen«. Man werde »weiterhin mit dem nächsten israelischen Verteidigungsminister zusammenarbeiten.« Auch die israelische Opposition reagierte umgehend. Gadi Eizenkot, Oppositionsabgeordneter von der Nationalen Einheit und ehemaliger Stabschef der IDF, der nach dem 7. Oktober Mitglied des Kriegskabinetts war, kommentierte zu Netanjahus Entscheidung: »Gallants Entlassung ist ein Zeichen von einem Verlust des Verstandes.«
»Verrückt und krank«
Ex-Ministerpräsident Naftali Bennett kritisierte die Entscheidung ebenfalls scharf und bezeichnete die derzeitige Führung des Landes als »verrückt und krank«. Auf der Plattform X schrieb er: »Ich rufe unsere Soldaten an allen Fronten auf: Verliert nicht den Fokus auf den Feind. Wenn ihr uns beschützt, werden wir, die Öffentlichkeit, euch beschützen. Verzweifelt nicht, der Wandel kommt.«
Oppositionsführer Yair Lapid sagte dem Nachrichtenkanal 12: »Wir befinden uns inmitten des wahnsinnigsten Ereignisses in der Geschichte dieses Landes«, und fügte hinzu: »Was sollen die Familien der Geiseln jetzt denken? Dass es das Ende für sie ist? Ihre Angehörigen werden dem Tod überlassen, weil sich ihr Premierminister nur um seine eigene Politik kümmert?« Niemand, nicht einmal Netanjahus Anhänger, »glauben, dass Gallant aus beruflichen Gründen entlassen wurde«, so Lapid weiter. In Bezug auf die Befreiung vom Armeedienst für die Ultraorthodoxen führte er aus: »Gallant wurde entlassen, weil Netanjahu die Wehrdienstverweigerer gegenüber denen bevorzugt, die ihren Dienst leisten. Er wurde gefeuert, weil Netanjahu in Kriegszeiten politisch überleben will.«