Inbar Sagi ist etwa zwei Köpfe kleiner als die muskulösen Männer, die ihr in Reih und Glied stramm gegenüberstehen. Im Zivilleben hat die 20-Jährige mit dem langem blonden Zopf und den frechen blauen Augen alles getan, um den Kontakt mit solch »zwielichtigen Gestalten« zu meiden. Aber Sagi leistet ihren Wehrdienst in Havat Haschomer und das Militärlager versteht sich nicht als Kaserne sondern eher als Festung im Kampf um soziale Gerechtigkeit. In Israel, in dem die Schere zwischen Arm und Reich immer weiter auseinanderklafft, ist die Kaserne am See Genezareth ein Zufluchtsort für kriminelle oder sozial schwache Jugendliche.
Wie Sagi sind fast alle Offiziere in Havat Hashomer Frauen im Alter von 18 bis 21 Jahren. »Die Männer fühlen sich von ihnen nicht bedroht, müssen sich nicht beweisen. So können wir bereits im Vorfeld Gewalt verhindern«, sagt Oberstleutnant Ras Karni, seit vier Jahren der Kommandant von Havat Haschomer. Trotzdem ist »jeder Tag ein Kampf«, sagt Sagi. Schon die Rekruten morgens aus dem Bett zu holen, ist eine Herausforderung. »Man darf nie aufgeben«, sagt die junge Unteroffizierin, die mit der Geschwindigkeit eines Maschinengewehrs spricht. Beharrlich rüttelte sie morgens um fünf Uhr müde und mürrische Wehrpflichtige aus den Betten, sorgte dafür, dass sie sich anziehen und im Spalier standen. Sie wurde dafür verflucht oder ignoriert, andere drohten ihr. »Man darf nichts persönlich nehmen. Aber bei meinem ersten Kurs weinte ich drei Monate lang jeden Tag«, erzählt Sagi.
erziehungscorps Ihr Vorgesetzter Karni trägt seit mehr als zwanzig Jahren die israelische Uniform. Seine derzeitige Aufgabe bezeichnet er jedoch als »die wichtigste Schlacht meines Lebens«. Der athletische Soldat entdeckte erst im Erziehungscorps diese »neue Front«: »Bei Hausbesuchen sah ich Israels Hinterhof und war schockiert«, versichert Karni. »Wir können Satelliten ins Weltall schießen, aber fünf Fahrtminuten von jedem Ort in Israel entfernt wohnt ein Kind, das nichts zu essen hat.« Ohne Havat Haschomer würden viele Rekruten nicht zum Mittagessen sondern zum nächsten Tatort marschieren. Etwa 70 Prozent von ihnen sind vorbestraft: »Ich schlafe nicht immer gut, nachdem wir ihnen Waffen ausgehändigt haben«, sagt Karni. Rund ein Drittel der Männer hat schwere wirtschaftliche oder psychologische Probleme: »Armut ist ein Geisteszustand», findet Kommandand Karni. »Arme Menschen planen nichts langfristig, sondern denken an die nächste Stunde.«
Elior Sikvaschwili, 19, hatte sich mit seinem Leben abgefunden. Nach der Scheidung seiner Eltern zog er mit seiner Mutter in den armen arabischen Teil Tel Avivs: »Ich knackte Autos, rauchte Drogen. Wir kannten die Polizeistation recht gut«, sagt Sikvaschwili. Er wollte nicht zur Armee: »Die meisten meiner Freunde waren Araber und nicht gut auf die Armee zu sprechen. Ich ging nie zur Schule. Wofür auch?« In Havat Hashomer scheiterte Sikvaschwili fast: »Ich hatte zu viele Klassen verpasst und kam ins Gefängnis, weil ich morgens nicht zum Appell antrat und andere schlug.« Doch Karni gab Sikvaschwili noch eine Chance und unterstellte ihn dem Stabsfeldwebel persönlich: »Man gab mir das Gefühl, dass man wirklich an mich glaubt«, sagt Sikvaschwili. »Das war neu für mich.« Heute hat Sikvaschwili zwei Wünsche: »Ich will so werden wie meine Vorgesetzten, und ich will Abitur machen.«
Respekt und Disziplin Die Offiziere in Havat Haschomer stammen zumeist aus wohlhabenden Familien. Der Unterschied zu den Rekruten könnte kaum größer sein. Doch nach wochenlanger Arbeit kommt es zu einer engen Bindung zwischen Töchtern der israelischen Elite und Kriminellen sozialer Randgruppen. Die Mädchen entwickeln Verständnis, dafür ernten sie Respekt und Disziplin. Sikvaschwili hat inzwischen seine zweite Grundausbildung als Mustersoldat bestanden. Mehr als 70 Prozent der Männer und 90 Prozent der Frauen, die im Rahmen dieses Sonderprogramms eingezogen werden, leisten einen vollen Wehrdienst ab.
Aber nicht nur die israelische Armee zieht Nutzen: »Wir haben eine nationale Aufgabe«, sagt Karni. In der Armee können die Soldaten einen Schulabschluss machen und einen Beruf erlernen. Aus Straftätern werden Mechaniker, Sekretärinnen und Elektriker. Sagi erzählt von einem persönlichen Erfolg: »Einer meiner Soldaten rauchte zwei Päckchen am Tag, als er herkam. Ich hab ihn auf acht Zigaretten runtergebracht.« Für manche Soldaten änderte sich bereits das Leben in Zivil: »Früher hat meine Mutter mich 40 Mal am Tag angerufen, weil sie sich Sorgen machte«, sagt Sikvaschwili. »Jetzt ruft sie nicht mehr an. Sie weiß, dass bei mir alles wieder im Lot ist.«