Ihre Geschichte ist echt. Ihr Profil ist es nicht. Der Account auf Instagram im Namen von Éva Heyman will die Erlebnisse der 13-jährigen Jüdin aus Ungarn nacherzählen, die von den Nazis ermordet wurde – von dem, was das Mädchen vor dem Einmarsch der Deutschen 1944 beschäftigte, über den Zwangsumzug ins Ghetto bis zum Abtransport nach Auschwitz, wo sie vergast wurde. Ihr Leben von damals in den Medien von heute. So wird es als »Story« mit kurzen Videos, Bildern und Textausschnitten dargestellt, die nach und nach eingestellt werden sollen. Die erste ging am Jom Haschoa online.
https://www.instagram.com/p/BwzDi11HF5d/
»In Erinnerung an die sechs Millionen Juden, die im Holocaust ermordet wurden«, steht unter dem Foto von »eva.stories«, das ein junges Mädchen mit blauem Mantel und Mütze im Stil der 40er-Jahre zeigt. Es ist eine Schauspielerin. Hinter der Aktion stehen der israelische Hightech-Unternehmer Mati Kochavi und seine Tochter Maya, die das private Projekt ins Leben gerufen haben. Sie wollen den Holocaust für die jüngere Generation zugänglich machen – in ihrer Sprache, auf ihren Medien. Laut der Wirtschaftszeitung »Globes« ist Kochavi mit dem Medienunternehmen »Taya Media Group« verbunden. Der von ihnen gegründete Fonds für »neue israelische Inhalte« steht hinter »eva.stories«.
TAGEBUCH Das Tagebuch von Éva gibt es tatsächlich. The Diary of Éva Heyman ist als Buch veröffentlicht worden und erzählt die Gefühle und Gedanken des Mädchens in dieser schweren Zeit, doch auch ihren unbeschwerten Alltag mit der Familie und Freunden, erste Gefühle von Verliebtheit. Ihre Mutter, die die Schoa überlebt hatte, fand das Tagebuch nach Kriegsende in dem einstigen Wohnhaus. Kochavi will es durch das Projekt lebendig machen und »eine Möglichkeit schaffen, die wahre Geschichte eines jüdischen Mädchens, das den Holocaust durchlitt, durch Storys nachzuerzählen. Millionen in aller Welt können Éva folgen und ihr Leben miterleben«. Das tun auch berühmte Israelis, unter anderem Fernsehmoderator Guy Pines, Model Agam Rodberg und Musiker Ran Dankner.
Kochavi drehte in der Ukraine mit Hunderten von Schauspielern und Statisten.
Tage, bevor der erste Eintrag hochgeladen wurde, hatte »eva.stories« bereits mehr als 134.000 Follower. Stündlich kamen Tausende hinzu. Für eine Seite ohne Inhalte ein massiver Erfolg. Eine Hand, die hinter Stacheldraht hervorragt und ein Mobiltelefon hält, ist das Logo des Projekts. Die Frage »Was wäre, wenn ein Mädchen im Holocaust Instagram gehabt hätte?« prangt an großen Kreuzungen im ganzen Land auf Plakaten. In den knalligen Farben Lila, Rot und Gelb sind sie nicht zu übersehen und fordern dazu auf: »Follow @eva.stories«.
Kosten und Mühen hat Kochavi für die Produktion keine gescheut. Er drehte monatelang in Lwiw in der Ukraine mit Hunderten von Schauspielern, Statisten und Filmleuten, organisierte Panzer, Fahrzeuge, Kleidung, Uniformen, Möbel, Kunstwerke, Dekorationen und vieles andere aus vergangener Zeit. Gefilmt wurde aus dem Blickwinkel des Selfies, die Videos passen ins Handy-Format, wo Instagram fast ausschließlich aufgerufen wird.
LIKES Doch nicht alle nehmen Kochavi die ausschließlich hehren Absichten ab. Zuf Fatissi aus Tel Aviv, der durch die Plakate an der Stadtautobahn Ayalon von »eva.stories« erfahren hat, schrieb auf seiner Facebook-Seite: »Es ist ein schreckliches Vorhaben, auf die Schoa aufmerksam zu machen, nur um Likes zu bekommen.« Auch der Passantin Hadas Suzan gefällt die Aktion nicht: »Ich musste zweimal lesen, um es zu verstehen. Den Schrecken und diese Erlebnisse so oberflächlich darzustellen, passt einfach nicht. Auch das schöne Wort ›Zugänglichkeit‹ gibt nicht das Recht, die schweren Erinnerungen und Tränen eines Mädchens im Holocaust in einer Story zu verpacken. Es gibt Dinge, die authentisch und schockierend bleiben sollten, wie sie waren. Ohne Hashtag, Gif und Location.«
Schockieren wollen die Macher offenbar nicht. Sie verzichteten gänzlich auf Gewaltszenen und hielten sich rein an das Tagebuch des Mädchens. Dennoch polarisiert die Aktion. Und hat damit immerhin bereits erreicht, dass die Schoa wieder ins Bewusstsein der Öffentlichkeit geholt wurde. Denn die Menschen diskutieren darüber – und sei es bislang nur, ob die Schoa auf Instagram und ähnlichen Plattformen thematisiert werden sollte oder nicht.
Grundlage ist die reale Lebensgeschichte von Éva Heyman.
Die Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem in Jerusalem hat zwar lediglich Informationen zu »eva.stories«, die von der Kampagne veröffentlicht wurden, meint jedoch: »Das Nutzen von sozialen Medienplattformen, um an den Holocaust zu erinnern, ist legitim und effektiv.« Die Gedenkstätte selbst nutze eine Vielzahl sozialer Medienkanäle, darunter auch Instagram, »allerdings in einer anderen Art und Weise«. Nicht nur würden die Beiträge von Yad Vashem authentisches Material und historisch belegte Fakten enthalten, »sondern wir stellen auch sicher, dass der Inhalt sowohl relevant für die Öffentlichkeit als auch respektvoll ist«.
GENERATIONEN Ein Vater, der mit seinem Sohn im Auto saß, als er das Plakat sah, findet die Aktion gut, denn »auf diese Weise haben wir eine Unterhaltung begonnen, die wir sonst so sicher nie gehabt hätten«. Und so ist »Zugänglichkeit« das Motto, das über allem steht. »Nur 2,7 Prozent der Debatten um den Holocaust in Europa und in den USA gehen von jungen Leuten aus; ein bedeutender Rückgang im Vergleich zu vorherigen Generationen«, erläutert Kochavi. Er meint, dass man in der digitalen Zeit, in der die Aufmerksamkeitsspanne kürzer wird und die Inhalte immer aufregender werden müssen, neue Modelle für Zeugnisse und Erinnerungen finden muss – auch im Hinblick auf die schwindende Zahl von Schoa-Überlebenden und den Anstieg des Antisemitismus.
Seiner Meinung nach ist Instagram eine Erzählplattform wie andere auch. »Es ist möglich, eine Geschichte zu erzählen, die gleichzeitig tiefgründig und oberflächlich ist. Es ist die Idee des Projekts, soziale Netzwerke zu nutzen, um ein neues Genre der Erinnerungsliteratur zu kreieren. Und wir hoffen, dass wir auf diese Weise den Zuschauern Évas Leben und die Tiefen ihrer Seele näherbringen können.«