Er hat einen festen Platz. Jeden Abend, nachdem der Schabbat geendet hat, zieht Michael Friedlander seine Laufschuhe an, nimmt die Flagge und geht los. Am Platz der Demokratie im Zentrum von Tel Aviv sitzt er dann auf einem Mauervorsprung. Neben ihm donnern die Trommeln in rhythmischen Schlägen, bebt der Boden förmlich zu den Sprechgesängen: »Buscha, Buscha!«, skandieren Tausende. »Schande!«
Der 87-jährige Marinebiologe hat seit eineinhalb Jahren keine Demonstration verpasst. Immer sitzt er am selben Platz, ist Teil der wöchentlichen Massenproteste. Die begannen Anfang 2023, als die rechts-religiöse Regierung unter Ministerpräsident Benjamin Netanjahu die sogenannte Justizreform ankündigte.
Viele Israelis fürchteten um den Erhalt der Demokratie in ihrem Land und begannen, ihren Unmut lautstark auf den Plätzen des Landes zu bekunden. Zentrum der Proteste war und ist die Kaplanstraße in Tel Aviv. Von Anfang an mit dabei: Friedlander. Der Mann, dessen Eltern vor den Nazis aus Deutschland fliehen mussten, will mit seiner Anwesenheit für ein demokratisches Israel einstehen.
»Wir brauchen etwas Besseres für unser Land.«
Michael Friedlander
Dann kam der 7. Oktober 2023 mit den verheerenden Massakern der Hamas in den südlichen Gemeinden Israels. Die Proteste endeten, der Krieg begann. Und es ging mehr um Einheit als um Widerstand. Seit einigen Wochen sind die Demonstranten wieder da. »Demokratie« steht noch immer auf ihren Fahnen. Doch jetzt hat sich ein anderes Wort dazugesellt: »Verantwortung«.
Auch für Friedlander ist dies der hauptsächliche Grund, auf die Straße zu gehen. »Ich verlange, dass die Regierung für das Desaster des 7. Oktober die Verantwortung übernimmt und dass die Geiseln nach Hause kommen«, sagt er. »Ich will, dass diese Regierung zurücktritt und es Neuwahlen gibt. Wir brauchen etwas Besseres für unser Land.« Da er sich als Optimist bezeichnet, ist er sicher, dass das auch kommen wird.
Die Zweistaatenregelung sieht Friedlander als einzig wirkliche Lösung
Den Unabhängigkeitstag Israels sieht er als »sehr wichtigen und respekteinflößenden Tag, an dem die Vision eines jüdischen Staates Realität wurde«. Für die Zukunft wünscht er sich Frieden und meint, dass dieser langfristig nur durch eine Zweistaatenregelung für Israelis und Palästinenser erreicht werden könne. »Ich weiß, die meisten haben Angst, diese Idee heutzutage überhaupt auszusprechen. Doch für mich ist klar: Es ist die einzig wirkliche Lösung.«
Michal Bitan hat eine Tröte mit dabei. Während ihre Mitdemonstranten skandieren, bläst sie im Takt dazu schräge Töne. Auch die Mutter von zwei Töchtern hat kaum eine Demonstration verpasst. Denn sie hat Angst. »Es ist mir wichtig, von meinem Demonstrationsrecht Gebrauch zu machen, weil ich Sorge habe, dass wir alles verlieren könnten, was mir wichtig ist.« Der Einfluss der Extremisten in der Regierung sei ihrer Meinung nach beängstigend und brandgefährlich.
»Ich habe keinen anderen Ort, an dem ich sein kann und will. Meine Töchter und ich haben keine zweiten Pässe. Aber auch wenn wir welche hätten, würden wir nicht wegziehen. Hier bin ich geboren und aufgewachsen, habe meine Mädchen großgezogen. Hier wollen wir leben. Wir haben kein anderes Land!«
Besonders in diesen Zeiten, wo Antisemitismus und Israelhass in der ganzen Welt neue Höhen erreichen, wünscht sich Bitan, dass die Werte, die sie vertritt, Bestand haben mögen. »Denn ich will ein Zuhause für meine Töchter, an dem sie sich sicher und wohlfühlen. Dass Israel demokratisch und tolerant bleibt, ist die Basis für alles.«
Ofer Baram hat seinen Sohn Aviv am 7. Oktober verloren
Ofer Baram hat bereits fast alles verloren: seinen Sohn, viele Freunde und Bekannte, sein Zuhause. Bis zum 6. Oktober lebte er im Kibbuz Kfar Aza. Wie sein Sohn Aviv, der zum Sicherheitsteam des Kibbuz gehörte. »Sie waren auf zwei, drei, vielleicht zehn Terroristen vorbereitet. Aber doch nicht 600. Alle sieben Helden starben, als sie versuchten, die Gemeindemitglieder zu schützen. Auch mein Sohn.« Aviv war 33. Er hinterlässt seine Frau Rachel und die beiden Kinder Omer (4) und Ran (1).
Für sie geht der 68-Jährige auf die Straße. Zum einen, um für die Freilassung der Geiseln zu demonstrieren, seiner Meinung nach »das wichtigste Ziel momentan«. Fünf der Menschen, die noch immer von der Hamas in Gaza gefangen gehalten werden, sind aus seinem Kibbuz: Doron Steinbrecher, die Zwillinge Ziv und Gali Berman, Emily Damari und Keith Segal.
»Die Freilassung der Geiseln ist das wichtigste Ziel. Auch aus meinem Kibbuz.«
Ofer Baram
»Was geschehen ist, ist geschehen.« Aber jetzt sei die Frage, wie es weitergehe, so Baram, der für die Jewish Agency arbeitete. »Wir, eine Gemeinde von mehr als 1000 Leuten, sind Flüchtlinge in einem Hotel. Was wird mit unserem Leben geschehen? Wie kommen wir zurück nach Kfar Aza, nach Sderot, Be’eri, Nir Oz? Wie können wir das Land wiederaufbauen, und wie wird unsere Zukunft aussehen?« Diese Fragen treiben ihn täglich um.
All dies müsste das Hauptanliegen der Gesellschaft und vor allem der Regierung sein, meint er und erhebt seine Stimme. Er ist wütend. »Aber so ist es nicht, weil ein Krimineller auf dem Sessel des Premierministers sitzt, der sich um nichts schert, außer um sich selbst. Währenddessen wird unser Land zerstört, das unsere Eltern und Großeltern aufgebaut haben.«
»Was für ein Ort, was für ein Kibbuz«, sinniert er und streichelt über den Kopf seines Enkels. »Wir lebten in einem Paradies. Aber dann das. Keiner von unseren Soldaten hat die Grenze nach Gaza überschritten. Die Mörder kamen zu uns. Niemand kann sich vorstellen, was wir durchmachen. Niemand! Und wo ist unsere Unterstützung?« Um die einzufordern – dafür protestiert er, der Kibbuznik und Israeli Ofer Baram.