Schon als 15-Jähriger im Frankfurter Westend war Gretel Baum klar, dass es für Juden nur eine Heimat geben konnte – Eretz Israel. Sie las Theodor Herzl und besuchte Martin Buber in Heppenheim an der Bergstraße, wo der Religionsphilosoph bis zu seiner Alija 1938 lebte. »Zum Entsetzen meiner Eltern wurde ich begeisterte Zionistin.« Für die Mutter, eine Großnichte des großen deutschen Reformrabbiners Abraham Geiger, aber war »Zionismus nur etwas für arme Ostjuden.«
Die Baums waren assimilierte liberale »deutsche Staatsbürger jüdischen Glaubens«, denen Bildung wichtig war: Klavierunterricht, Gesang, Tanz – das zählte ebenso zu Gretel Baums Jugend wie der Besuch der Viktoriaschule, der heutigen Bettinaschule im Frankfurter Westend. Dort machte Gretel 1932 ihr Abitur. Zionismus passte nicht in dieses Raster: »Meine Eltern waren so sehr gegen den Zionismus, dass mein Vater am Sederabend sich weigerte zu sagen ›Nächstes Jahr in Jerusalem‹!«
Auf Unverständnis stieß die junge Frau auch bei Altersgenossen. Eine Schulfreundin meinte: »Das Bäumche ist übergeschnappt! Sie will nach Palästina auswandern!« Doch das hielt Gretel Baum nicht von ihren Plänen ab. Vor allem nicht, nachdem 1933 die Nationalsozialisten an die Macht kamen: »Als ich spät nach Hause kam, sah ich am Horizont die Flammen eines Fackelzugs zu Ehren des ›Führers‹. Ich zögerte keinen Moment mehr.« Die 20-Jährige kündigte ihre Stelle bei der Deutschen Effecten- und Wechselbank, »Eltern oder nicht«, und bereitete sich auf die Alija vor.
alija Die Frau, die das erzählt, ist in diesem Monat 100 Jahre alt geworden. Gretel Baum-Merom lebt heute in einem Elternheim in Haifa und nimmt trotz ihres hohen Alters weiter aktiv teil am Leben: via Skype und Facebook mit Schülern ihrer ehemaligen Schule im Frankfurter Westend, mit der Familie in Amerika und Freunden in aller Welt. An ihrem Bett liegt immer Goethes »Faust«, ihre Urenkelin wird Deutsch lernen und bald ihre Bücher lesen können. Drei Bände hat sie geschrieben über ihr Leben und das Schicksal ihrer Familie. Der Titel des ersten Memoirenbands ist programmatisch: Kinder aus gutem Hause, mit dem Untertitel Von Frankfurt am Main nach Israel und Amerika.
Nach Eretz Israel ging es im April 1934. Mit dem Zug nach München, von dort im versiegelten Abteil nach Triest, weiter mit anderen jungen Zionisten auf dem Dampfer »Gerusalemme« übers Mittelmeer ins damalige britische Mandatsgebiet Palästina. Am 30. April landete die Gruppe in Jaffa: »Es war alles sehr exotisch und romantisch«, erinnert sich Gretel Baum-Merom, »wir wurden von arabischen Schiffsleuten in schaukelnden Booten an Land gebracht.«
Die anfängliche Euphorie wich bald der Realität des Pionierlebens: »Wir haben sehr schwer gearbeitet«, erinnert sich Gretel Baum-Merom. Sie zählte zu den Gründungsmitgliedern des Kibbuz Ein Gev am See Genezareth, das berühmteste Mitglied dort war der spätere Jerusalemer Bürgermeister Teddy Kollek.
Während die junge Gretel im Kibbuz mit schweren Hacken sandigen Boden für Orangenbäume urbar macht und in einem Zelt lebt, hoffen die Eltern in Frankfurt auf ein Ende der Nazizeit. Gretel und ihrem Bruder Rudolf, der 1935 in die USA emigrieren konnte, wird Mut zugesprochen für ihr neues Leben. Vater Norbert Baum, der bis zur Enteignung durch die Nazis als teilhabender Kaufmann sein Geschäft in der Frankfurter Kaiserstraße betreibt, erzählt in den Briefen von Freunden und Familie. Mit den Jahren aber wird der Ton dringlicher. 1937 schreibt der Vater: »Die Abwanderung hält an, täglich hört man von neuen Abreisen.«
deportation Julie und Norbert Baum verlieren ihre Wohnung am Reuterweg, müssen in ein »Judenhaus« in der Wolfgangstraße umziehen. Dennoch wollen sie ihre Kinder nicht beunruhigen: »Ich denke, es geht bald vorüber«, heißt es in einem ihrer Briefe.
1936 hatte Julie Baum Gretel in Palästina besucht. Doch die Tochter konnte die Mutter nicht zum Bleiben überreden: »Dass ich sie unwissentlich in den sicheren Tod gehen ließ, das ist eine Tatsache, die mir heute mehr denn je zu schaffen macht.« Immer noch macht sich die zierliche Frau Vorwürfe, dass sie nicht die 1000 Pfund Sterling aufbringen konnte, um ihren Eltern später mit einem sogenannten »Kapitalisten«-Zertifikat den Weg nach Palästina zu ebnen.
Vor allem die letzten Elternbriefe aus dem Jahr 1941 sind verzweifelte Hilferufe nach einer möglichen Auswanderung: »Wir erwarten deine Nachricht betr. Cuba, da die Sache sehr dringend ist und jeden Tag dringlicher wird. … Du kannst Dir denken, wie traurig das für uns ist, dass uns nicht gelingen will, was so vielen gelingt.« Wahrscheinlich nur vier Tage später werden Julie und Norbert Baum mit dem ersten Transport zusammen mit rund 1000 anderen Frankfurter Juden deportiert.
Gretel Baum-Merom hat Tränen in den Augen, wenn sie davon spricht: »Es erfasst mich mit Grauen, wenn ich mir vorstelle, dass meine Eltern wie Schlachtvieh mit einem Namensschild um den Hals durch das Westend zur Frankfurter Großmarkthalle geführt wurden.« Von dort wurden Julie und Norbert Baum, gepfercht in Viehwaggons, ins Ghetto von Lodz transportiert. Ihre Mutter erhängt sich dort 1942 aus Angst vor der Deportation ins Vernichtungslager, der Vater stirbt an Hunger oder einer Seuche – vollkommen geklärt ist sein Schicksal bis heute nicht.
stolpersteine »Zünden Sie doch bitte eine Kerze an für meine Eltern«, bat die alte Dame mich, als wir Ende 2011 einmal telefonierten. Und so brannten im Januar 2012 am Reuterweg in Frankfurt/Main zwei Kerzen an den Stolpersteinen für Julie und Norbert Baum. Die Fotos davon stellt Gretel später auf eine Kommode. Sie war schon 98 Jahre alt, als die Stolpersteine im Juni 2011 verlegt wurden. »Damals konnte ich einen Punkt machen. Ich habe das Gefühl, dass ich ein wenig die Schuld gegenüber meinen Eltern abgetragen habe.«
Vor zwei Jahren hat Gretel Baum-Merom den letzten Band ihrer dreiteiligen Familiengeschichte veröffentlicht, mit Briefen ihrer Eltern aus Nazideutschland, an den Bruder in Amerika. »Ich hatte die Briefe jahrelang in meinem Bücherschrank, nie habe ich sie angefasst. Erst als mein Bruder starb, habe ich sie mir vorgenommen.« In ihrem kleinen Zimmer im Elternheim holte sie ihre alte Schreibmaschine hervor, mit weit über 95 Jahren sattelte sie auf Computer um. »Und dann musste ich wieder ans Briefbündel ran. Und wieder hatte ich Herzweh und wieder hatte ich Aufregung.«
Die Bücher hat Gretel Baum-Merom vor allem für junge Deutsche geschrieben. »Damit es alle lesen. Auch die Generation, die wirklich nicht schuldig ist. Damit sie sehen, wozu ein Mensch fähig ist.« Die junge Generation kennt sie. Freiwillige der Aktion Sühnezeichen waren immer wieder im Elternheim. Ihnen hat sie auch den zweiten Band ihrer Erinnerungen gewidmet. Mit Altersgenossen dagegen hatte Gretel Baum-Merom ihre Probleme. Als sie 1961 mit ihrem zweiten Mann erstmals wieder deutschen Boden betrat, fielen ihr Gespräche mit Bundesbürgern schwer – zu offen die Frage, was diese Menschen getan hatten während der Nazizeit.
Am 9. Februar ist Gretel Baum-Merom 100 Jahre alt geworden. Viele Freunde aus Deutschland kamen zu ihrer Geburtstagsfeier in Haifa. Auch aus Frankfurt, der Stadt, in der ihre Familie mehr als 400 Jahre lebte und aus der ihre Eltern in den Tod geschickt wurden. Der Geburtstagwunsch der Jubilarin: »Dass man meinen Nachkommen dieses kleine Stück Land nie mehr streitig macht.«
Gretel Baum-Meroms Bücher sind im Hartung-Gorre-Verlag, Konstanz, erschienen.
www.hartung-gorre.de