Geiseldeal

Die letzte Chance?

Übt auf beide Seiten Druck aus: US-Außenminister Blinken Anfang der Woche in Tel Aviv Foto: picture alliance / ASSOCIATED PRESS

Es war eine düstere Operation. Am Ende warteten weder Umarmungen noch vor Freude strahlenden Angehörige. Während die Verhandlungen zu einem Waffenstillstand und der Befreiung der Geiseln in Doha und Kairo liefen, hat die israelische Armee sechs Leichen von verschleppten Israelis aus einem Terrortunnel der Hamas in Gaza geborgen.

Es handelt sich um Haim Perry, Alex Dancyg, Yoram Metzger, Nadav Popplewell, Yagev Buchshtab und Avraham Munder. Zuvor war man davon ausgegangen, dass Munder noch leben würde. Doch mit der Rückführung der sterblichen Überreste der Männer aus den Kibbuzim Nir Oz und Nirim kam die schreckliche Bestätigung.

Die große Angst, dass dies bald auch das Schicksal der weiteren noch in Gaza festgehaltenen Geiseln sein könnte, wächst bei den Angehörigen täglich. Nach israelischen Angaben sind 109 Geiseln noch immer in der Gewalt der Hamas, von denen bereits 36 für tot erklärt wurden. Es besteht außerdem die Sorge, dass weitere Verschleppte, über deren Zustand es keine Informationen gibt, nicht mehr am Leben sind. Die ganze Hoffnung, noch lebende Menschen aus den Klauen der palästinensischen Terrororganisation zu befreien, konzentriert sich auf die Verhandlungen, die in der vergangenen Woche in Katar begonnen hatten.

Dass es sich um eine »letzte Chance« handeln könnte, betonte auch der amerikanische Außenminister Antony Blinken bei seinem Besuch in Israel am Dienstag. »Dies ist ein entscheidender Moment, wahrscheinlich der beste. Vielleicht ist es die letzte Gelegenheit, die Geiseln nach Hause zu holen, eine Waffenruhe zu erzielen und alle auf einen besseren Weg zu dauerhaftem Frieden und Sicherheit zu bringen.«

Blinken wollte Geiseldeal vorantreiben

Blinken war eigens in den Nahen Osten gereist, um ein Abkommen »über die Ziellinie zu bringen«. Nach einem stundenlangen Gespräch mit dem israelischen Ministerpräsidenten Benjamin Netanjahu verkündete der amerikanische Chefdiplomat, dass Israel den von den USA unterstützten Vorschlag über einen Waffenstillstand und die Befreiung der Geiseln akzeptiert habe. Netanjahu bestätigte dies. Es liege nun an der Hamas, ebenfalls zuzustimmen, so Blinken. Doch schon Stunden später behauptete die Terrorgruppe, die USA hätten sich Israels Bedingungen gebeugt und einige Punkte in dem Abkommen verändert. Was genau damit gemeint war, erklärte sie nicht. Gleichzeitig machten Vertreter der Hamas jedoch klar, dass sie dies nicht akzeptieren werden. US-Präsident Joe Biden hatte zuvor bereits gesagt, dass »die Hamas sich zurückzieht«. Gleichfalls wolle man die Gespräche noch nicht als gescheitert erklären. Denn bereits mehrfach in der Vergangenheit hatten die Islamisten Abkommen spontan zugestimmt, nachdem sie sich vorher öffentlich dagegen ausgesprochen hatten.

Bei der jetzt diskutierten Vereinbarung handelt es sich um einen sogenannten »Überbrückungsvorschlag« auf Basis der Waffenstillstandsvereinbarung, die US-Präsident Joe Biden im Mai vorgestellt hat. Demnach würde der Prozess in mehreren Phasen ablaufen: In der ersten gäbe es eine Feuerpause über einen Zeitraum von sechs Wochen, in deren Verlauf Geiseln freigelassen und palästinensische Gefangene ausgetauscht werden. Parallel dazu sollen Verhandlungen über die Bedingungen für einen dauerhaften Waffenstillstand geführt werden. Israel hat bereits eine Liste mit Namen von 33 Geiseln vorgelegt, die in der ersten Phase freigelassen werden müssen. Dazu gehören Frauen, Kinder sowie alte und kranke Menschen. Erst wenn diese Gekidnappten frei sind, sollen die nächsten Schritte eingeleitet werden.

Vermittler: Scheitern des Geiseldeals könnte Krieg mit Iran bedeuten

Auch Verteidigungsminister Yoav Gallant hatte sich mit Blinken getroffen und ihm gesagt, dass Israel für den militärischen Druck auf die Hamas sorge, während die Vereinigten Staaten den politischen Druck auf die Organisation anführen sollten, bis ein Rahmen erreicht wird, der die Freilassung der Geiseln ermöglicht. Während Washington am Mittwoch noch Optimismus verbreitete, hieß es auch, dass die Vermittler vom Kurs der Hamas frustriert seien. Eine der Quellen wird mit den Worten zitiert: »Wir wissen nicht, ob (Hamas-Anführer Yahiya) Sinwar diesen Deal will. Aber wenn wir ihn nicht bekommen, besteht die Möglichkeit, dass der Iran Israel angreift und dies zu einer ausgewachsenen Konfrontation eskaliert.«

Allerdings seien die »maximalistischen Äußerungen« des israelischen Regierungschefs ebenfalls nicht sehr hilfreich, hieß es aus amerikanischer Quelle weiter. Netanjahu hatte am späten Dienstagabend bei einem Treffen mit einer Gruppe von Geiselangehörigen, die sich gegen eine diplomatische Lösung aussprechen, erklärt, dass Israel die Kontrolle über die Grenze zwischen Gaza und Ägypten auf keinen Fall aufgeben werde. Israel werde sich auch nicht aus den beiden Gebieten im südlichen und zentralen Gaza zurückziehen, so der Premier weiter. Aus strategischen und Sicherheitsgründen müssten dort Truppen stationiert werden. Es geht vor allem um den sogenannten Philadelphi-Korridor, der entlang der Grenze zwischen Gaza und Ägypten verläuft, wo die Hamas jahrelang Waffen und Waffenkomponenten eingeschmuggelt hat.

Blinken forderte daraufhin sowohl Israel als auch die Hamas auf, »maximale Flexibilität« zu zeigen, und unterstrich gleichzeitig: »Die Vereinigten Staaten akzeptieren keine langfristige Besetzung Gazas durch Israel. Das Abkommen ist sehr klar, was den Zeitplan und den Ort des Abzugs der israelischen Streitkräfte aus Gaza betrifft, und Israel hat dem zugestimmt.«

Teile der israelischen Regierung wollen keinen Deal

Einige Mitglieder aus Netanjahus Kabinett haben sich immer wieder vehement gegen eine Einigung mit der Hamas ausgesprochen und drohen, die Koalition zu verlassen, sollte er einem Deal zustimmen. In der vergangenen Woche besuchte der rechtsextreme Minister für nationale Sicherheit, Itamar Ben Gvir, den Tempelberg in Jerusalem und rief Juden dazu auf, dort zu beten – eine eindeutige Verletzung des Status quo. Mit dieser provokativen Aktion forderte er vom Premier, »nicht nachzugeben«.

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Washington übt nun massiven Druck auf beide Seiten aus. Denn in den Verhandlungen gehe es um mehr als nur Gaza und die Geiseln. Ihr Ausgang ist eng verknüpft mit den drohenden Angriffen des Irans und der schiitischen Terrororganisation Hisbollah im Libanon gegen Israel, ist man überzeugt. Die USA, die bereits Kriegsschiffe, U-Boote und Kampfflugzeuge in die Region entsandten, um Israel im Ernstfall zu verteidigen, hoffen, durch ein Waffenstillstandsabkommen einen umfassenden Krieg in Nahost verhindern zu können. Zudem warnten die Vermittlerländer USA, Ägypten und Katar davor, im Falle eines Scheiterns eigene Lösungsvorschläge für ein Ende des Krieges in Gaza zu präsentieren.

In Israel hatte sich der amerikanische Chefdiplomat Blinken auch mit Angehörigen der Geiseln getroffen. »Wir können es uns nicht leisten, diese kritische Gelegenheit zu verschenken, die die letzte Gelegenheit sein könnte«, hieß es anschließend in einer Erklärung der Familien. »Die Zeit für ein entschiedenes Handeln ist jetzt! Denn für unsere Geiseln läuft die Zeit ab.«

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