Frau Hoffman, Sie wurden vor knapp zwei Wochen an der Jerusalemer Klagemauer verhaftet, weil Sie dort laut gebetet haben. Was genau war passiert?
In Jerusalem wurde der 100. Geburtstag der Organisation Hadassah begangen, der größten jüdischen Frauenorganisation der Welt. 2000 Teilnehmer, die meisten davon Frauen, waren aus aller Welt angereist. Sie wollten Solidarität mit uns üben. Wir, das ist die Gruppe Women of the Wall, deren Vorsitzende ich bin. Also gingen wir zur Kotel, um dort einen sehr kurzen Gottesdienst abzuhalten. Schehechianu, Schma, Oseh Schalom Bimromav und Hatikva. Insgesamt zwölf Minuten. Während des Schma wurde ich von Polizisten verhaftet. Es war nicht das erste Mal, dass ich verhaftet wurde, aber das erste Mal, dass ich in Handschellen gelegt und eingesperrt wurde.
Was ist bei früheren Gelegenheiten passiert?
Früher wurde ich auch schon festgenommen, mit aufs Revier genommen, befragt und irgendwann mit einer Verwarnung nach Hause geschickt. Ich musste versichern, mich für mehrere Wochen nicht der Kotel zu nähern. Das dient natürlich der Einschüchterung der ganzen Gruppe, wenn ihre Anführerin bei Strafandrohung nicht zur Kotel gehen darf. Jahrelang habe ich dieses Spielchen mitgespielt: Ich ging mit aufs Revier, habe meine Fingerabdrücke abgegeben. Und nach Jahren bekomme ich einen Brief von der Polizei, in dem steht, dass der Fall nicht aus Mangel an Beweisen eingestellt wurde oder weil es kein öffentliches Interesse daran gibt, sondern weil keine Schuld vorliegt. Wenn ich also damals nicht schuldig war, wieso wird dann jetzt wieder eine Ermittlung eingeleitet? Vermutlich ist der ganze Zweck dieser Verhaftung, mich von weiteren Besuchen an der Kotel abzuhalten.
Das heißt, was Sie dort gemacht haben, war gar nicht illegal?
Wenn es illegal ist, sollen sie Anklage erheben! Wenn es ein Gesetz gibt, das besagt, dass man an der Kotel keinen Gottesdienst abhalten darf, der die religiösen Gefühle anderer verletzt, dann sollen sie mich vor Gericht bringen.
Gibt es ein solches Gesetz?
Ja. Es ist die 13. Richtlinie des Gesetzes zum Schutz der heiligen Stätten: Man darf dort keine religiösen Handlungen vollziehen, die die religiösen Gefühle anderer verletzen.
Das Gesetz bezieht sich aber nicht nur auf die Kotel?
Das gilt für alle heiligen Orte in Israel. Davon gibt es viele, wir sind schließlich das Heilige Land. Aber es wird vor allem an der Kotel angewandt. Dieses Mal wollte ich also einen Richter sehen, ich wollte nicht wieder unter Auflagen freigelassen werden. Ich wollte einem Richter erklären, dass wir hier seit Jahren ein albernes Spielchen spielen, weil nie Anklage erhoben wird. Wenn jemand ständig verhaftet wird, ohne dass es zu einer Anklage kommt, dann muss man irgendwann den Schluss ziehen, dass derjenige gar nicht gegen das Gesetz verstoßen hat, sondern nur die Ruhe stört.
Wenn es dieses Gesetz gibt, warum wurde denn dann noch keine Anklage gegen Sie erhoben?
Gute Frage. Ich war geständig, ich wurde gefragt, ob ich es nochmal tun würde, was ich bejahte, ich wurde gefragt, ob ich auch andere Frauen anstiften würde, was ich ebenfalls bejahte – also ein wasserdichter Fall. Dennoch wird keine Anklage erhoben, denn das würde die gesamte jüdische Welt erschüttern. Es würde sehr viele Leute wachrütteln, die sich fragen würden: Was hat sie denn Schlimmes getan? Warum ist die Kotel zu einer ultraorthodoxen Synagoge geworden? Warum haben wir gleichsam die Schlüssel zum heiligsten Ort des jüdischen Volkes einer Minderheitenströmung gegeben? Es gab immer schon Streit zwischen den verschiedenen Strömungen im Judentum. Aber nie hatte eine davon die Staatsmacht im Rücken. Der Streit spielte sich immer innerhalb der jüdischen Gemeinschaft ab. Wir sind eben ein aufmüpfiges Volk, das sich gerne streitet. Jetzt haben wir das Problem, dass eine religiöse Fraktion die säkulare Polizei, die säkulare Knesset, das säkulare Rechtssystem auf ihrer Seite hat. Das ist ein Missbrauch des Staates.
Was wollen Sie denn genau mit Ihrem Protest erreichen?
Wenn man mich fragt: »Sollten Frauen zu jeder Zeit an der Mauer beten dürfen, mit Tallit und lautem Gesang?«, würde ich im Prinzip sagen: ja. Aber ich sehe ein, dass es an diesem Ort unüblich ist. Was ich fordere, ist also: eine Stunde pro Monat, mehr nicht. Aber selbst das will man uns nicht zugestehen. Wir können den Ort nicht teilen, also sollten wir uns die Zeit aufteilen.
So wie es die Christen in der Geburtskirche tun?
Genau! Obwohl das Beispiel nicht ganz glücklich ist, denn in der Geburtskirche würden sie sich am liebsten gegenseitig an die Kehle gehen. Wann immer ich an den Juden verzweifle, schaue ich dorthin. Dort teilen sich ungefähr 40 Fraktionen den Raum, nicht die Zeit. Wo es mit der Zeiteinteilung – zwischen Juden und Muslimen – klappt, ist das Grab der Patriarchen in Hebron. Wenn wir also einmal im Monat in den frühen Morgenstunden zur Kotel gehen, müsste das doch möglich sein. Wenn die Ultraorthodoxen ihre Zeit dort haben, müssten sich natürlich alle an die ultraorthodoxen Regeln halten.
Der Journalist David Landau hat Sie in der Zeitung Haaretz scharf kritisiert. Er schrieb, die Orthodoxie sei nun einmal de facto die israelische Staatsreligion, man solle nicht mit pseudonaiver Provokation dagegen anrennen. Was würden Sie ihm antworten?
Ich weigere mich zu akzeptieren, dass die Orthodoxie Staatsreligion ist. Es wäre schlecht für die Orthodoxie, für das gesamte Judentum und für den Staat, wenn sie Staatsreligion wäre. Die Bevölkerung in Israel ist jüdisch – das hat kulturelle und religiöse Aspekte. Israel ist das Land des jüdischen Volkes, im jüdischen Volk gibt es viele Arten, sein Judentum auszudrücken, nicht nur eine. Es macht mich sehr besorgt, dass viele Israelis sich komplett von der Religion lossagen, weil sie mit der einzigen Marke, die im Angebot ist, nichts anfangen können.
Es gibt nur Orthodoxe und Säkulare und nichts dazwischen?
Richtig. Oft entdecken Israelis erst im Ausland, dass es auch andere Arten gibt, jüdisch zu sein. Dass das Judentum pluralistisch ist. Aber heute gibt es an der Klagemauer keinen Pluralismus. Ich finde, Israel ist zu bedeutend, um es nur den Israelis zu überlassen. Ich reise viel und fordere Juden weltweit auf, die Klagemauer für sich zu nutzen. Die Klagemauer ist für alle Juden da. Auch für Frauen. Und die meisten Juden auf der Welt sind nicht orthodox, auch für sie sollte die Klagemauer da sein. Selbst die Soldaten, die 1967 die Mauer befreit haben, fühlen sich dort nicht mehr zu Hause. Jede Richtung sollte zu bestimmten Zeiten dort beten dürfen. Und zu anderen Zeiten sollte sie jedermann offenstehen, Juden und Nichtjuden. Auch die »Women of the Wall« wollen ihr kleines Zeitfenster.
Warum ist die Situation so, wie sie heute ist – warum dieses Bündnis aus Staat und Orthodoxie?
Als die Westmauer befreit wurde, stellte sich die Frage, wer sie verwalten sollte, die Archäologen oder die Rabbis. Die Lobby der Archäologen war nicht stark genug, die Rabbis haben gewonnen. Also hat der Staat ihnen die Verwaltung überlassen. Das war ein Fehler. Das Komitee, das für die Mauer zuständig ist – der Western Wall Heritage Fund –, sollte auch Diasporajuden, Frauen, Archäologen, die Jerusalemer Stadtverwaltung, das Tourismusministerium und andere umfassen.
Wie wollen Sie das erreichen?
In ein paar Wochen werde ich vor dem Obersten Gericht das jetzige System der Kotel-Verwaltung anfechten. Jetzt, da ich in Deutschland bin, will ich die Studenten des Abraham Geiger Kollegs zu einem Solidaritätsgebet vor der israelischen Botschaft am 15. November auffordern. Sie sollen dem Botschafter ein Schreiben überreichen, in dem sie erklären, dass es mehr als einen Weg gibt, jüdisch zu sein. Warum soll nur eine Fraktion den Schlüssel zur Kotel haben?
Geht es nur darum, an der Klagemauer beten zu dürfen, oder geht es Ihnen grundsätzlich um den Status des Reformjudentums in Israel?
Ich bin die Direktorin des »Israel Religious Action Center« – das ist die führende Organisation in Israel, die das Verhältnis von Staat und Religion problematisiert. Wir fangen mit der Mauer an, weil sie ein Symbol ist. Aber es gibt auch andere Themen. Wir haben kürzlich einen Erfolg vor Gericht errungen: Rabbinerin Miri Gold ist die erste Reformrabbinerin, die ein staatliches Gehalt bezieht – sie und 14 weitere konservative und Reformrabbiner. Vergangenes Jahr haben wir vor dem Obersten Gericht durchgesetzt, dass auch Reformsynagogen vom Staat finanziell unterstützt werden.
Wird das Reformjudentum Ihrer Meinung nach diskriminiert?
Ja, was die Anerkennung und die finanzielle Unterstützung durch die Regierung betrifft. Wir müssen Schritt für Schritt Gleichberechtigung durchsetzen. Ich glaube, es ist auch gut für die Orthodoxie, wenn sie ein bisschen Konkurrenz bekommt. Bei manchen unserer Anliegen werden wir auch von Orthodoxen unterstützt, etwa im Fall der Geschlechtertrennung in Bussen, die jetzt verboten ist. Das hätten wir nicht durchgesetzt, wenn nicht orthodoxe Frauen mit uns gekämpft hätten.
Nur Frauen, oder auch einige orthodoxe Männer?
Nur 26 orthodoxe Frauen. Einige Männer haben uns angerufen und Solidarität bekundet, aber wir haben öffentlich nur mit Frauen zusammengearbeitet. Auch bei den »Women of the Wall« sind orthodoxe Frauen dabei.
Was ist denn für Sie der »Hauptwiderspruch«: Reformjuden gegen Orthodoxie oder Frauen gegen die patriarchale Gesellschaft?
Das eine ist ein Symptom des anderen. Der fehlende Pluralismus trifft die Frauen zuerst. Wenn ein orthodoxer Rabbi sich als besonders fromm profilieren will, dann tut er das dadurch, dass er Frauen nicht die Hand gibt, dass er sich also von Frauen distanziert. Manche fordern Frauen sogar auf, sich zu verschleiern, und einige tun das auch. Das ist noch eine sehr kleine Minderheit, aber es geht in diese Richtung. In vielen Bereichen der israelischen Gesellschaft gibt es mittlerweile Geschlechtertrennung, etwa bei bestimmten Veranstaltungen – die Busse waren nur ein Beispiel. An der Mauer hat es angefangen und breitet sich immer weiter aus.
Wird der religiöse Fundamentalismus in Israel stärker?
Ich glaube, dass die größere Sichtbarkeit von Frauen im öffentlichen Leben den orthodoxen Lebensstil bedroht. Wenn der Vater die Tora lernt, aber nur die Mutter weiß, wie man einen Scheck ausstellt, Auto fährt oder Sozialhilfe beantragt und überhaupt alles Alltagspraktische regelt, dann erhöht sich der gesellschaftliche Status der Mutter. Sie kennt sich in der säkularen Welt aus. Orthodoxe Jungs lernen in der Schule nicht mal Schwimmen oder Englisch oder Mathe, weil es vom Torastudium ablenkt. Mädchen lernen das alles sehr wohl. Dadurch erhöhen sich ihre Chancen. Die Rabbis merken das und sagen: »Du glaubst, du bist etwas Besonderes? Ab auf die hinteren Sitze im Bus! Denk daran, wo du hingehörst! Als nächstes willst du noch die Tora studieren!« Es gibt tatsächlich diesen Trend unter orthodoxen Frauen, an einer Jeschiwa zu lernen. Und dagegen formiert sich eine Gegenbewegung.
Hat man es als Frau in Israel schwerer als in Europa oder Amerika?
Ich glaube schon. Die beiden bedeutendsten Institutionen, die die Gesellschaft prägen, sind Religion und Armee. Beide sind patriarchal strukturiert. Frauen kommen dort selten an die Spitze. 40 der 120 Knessetmitglieder sind entweder hohe Militärs oder Rabbis. Für Generäle und Rabbis ist es sehr leicht, in die Politik zu wechseln. Aber Frauen gibt es darunter kaum. Wo stehen Frauen an der Spitze? In den NGOs! Die NGOs werden also wohl die Brutstätte für weibliche Politiker sein.
Wollen Sie nicht selbst in die Politik?
War ich schon. 15 Jahre lang saß ich im Stadtrat von Jerusalem. Ich wollte auch für die Knesset kandidieren, habe es aber nicht auf einen Listenplatz geschafft. Heute möchte ich nicht mehr selbst antreten, aber ich unterstütze bei der nächsten Wahl den Reformrabbi Gilad Kariv, den Vorsitzenden des »Movement for Progressive Judaism«, der für die Arbeitspartei antritt. Er ist von der Persönlichkeit her besser dazu geeignet als ich. Dazu braucht man dickere Haut, als ich sie habe.
Wie verbreitet ist das Reformjudentum in Israel?
Laut Umfragen sagen acht Prozent von sich, dass sie dem Reformjudentum nahestehen, und sieben Prozent bezeichnen sich als ultraorthodox. Wir sind also kein unbedeutender Akteur. Dennoch hat die Orthodoxie 4000 staatlich bezahlte Rabbiner und wir nur sehr wenige. Wir müssen unsere Rabbiner selbst bezahlen. Wenn der Staat nicht eine Fraktion bevorzugen würde, stünden wir viel besser da.
Haben Sie immer schon dem Reformjudentum angehört?
Nein, ich komme aus einer völlig säkularen Familie. Als Jugendliche war ich Schwimmerin und habe eine Zeit lang in Amerika gelebt. Dort habe ich eine Reformsynagoge für mich entdeckt. Ich war erstaunt, dass es so etwas gibt, und bin zum ersten Mal im Leben in die Synagoge gegangen. Israelische Freunde haben mir damals geschrieben: »Schneidest du dir jetzt etwa die Haare ab und sprichst nicht mehr mit uns?« Und ich sagte: Aber nein, das ist eine ganz andere Art, jüdisch zu sein. Wir kannten das in Israel überhaupt nicht. Viele kennen das noch heute nicht. Manchmal habe ich den Eindruck, in der Diaspora gibt es viel mehr Wissen über das Judentum als in Israel. Diese Ignoranz ist nicht erstaunlich. Wer soll denn den säkularen Schülern etwas über Religion beibringen? Der orthodoxe Rabbi etwa? Das würden säkulare Eltern niemals erlauben. Der erzählt den Kindern dann am Ende noch, dass ihre Eltern ein sündiges Leben führen. Ich sage: Lasst Reformrabbiner an den staatlichen Schulen Religion unterrichten! Die würden eine solide jüdische Bildung bieten, ohne irgendjemanden herabzusetzen. Aber die werden vom Staat nicht als Rabbis anerkannt. Wissen Sie, welches Ministerium das Gehalt von Miri Gold bezahlt? Das Ministerium für Sport und Kultur, nicht das Religions- und nicht das Bildungsministerium.
Das heißt, das Reformjudentum in Israel ist praktisch ein Import aus den USA?
Ich würde es nicht als Import bezeichnen. Die Diaspora ist der Samen, der mit dem Wind reist und anderswo Blüten treibt. Es kam aus dem Ausland, aber es ist trotzdem unseres. Die Reformbewegung in Israel ist etwas ganz Eigenes. Sie wird stärker und wird bald auch ihre Vertreter in der Knesset haben.
Mit der Frauenrechtlerin sprach Ingo Way.