Bevor Zipora Feller den drei Mädchen ihre Geschichte erzählte, warnte sie: »Was ihr hören werdet, klingt unglaublich. Es ist so furchtbar, dass man es sich nicht vorstellen kann. Und doch ist es geschehen.« Die Kunstklasse Tet 7 der Kfar-Hayarok-Oberschule in Tel Aviv hat ein Projekt initiiert, das Überlebende der Schoa und Schüler gleichermaßen tief berührt. Mädchen und Jungen treffen sich mit Männern und Frauen, die den Holocaust durchlitten haben, und bringen anschließend ein Theaterstück über deren Lebensgeschichten auf die Bühne.
An einem kalten, regnerischen Wintertag kamen zwölf Mitglieder des Sozialklubs der Organisation Amcha in die Schule im Norden der Stadt und unterhielten sich in kleinen Gruppen mit den Schülern. Amcha ist eine Organisation, die Schoa-Überlebende psychosozial unterstützt.
Die 14-jährige Dana hat Zipora Fellers Geschichte gehört und ist fassungslos. Zipora war in Auschwitz, ihre Schwester wurde vor ihren Augen erschossen, weil sie krank war. »Alles muss so unerträglich gewesen sein, dass wir es kaum glauben können«, sagt Dana. »Aber weil es fast unvorstellbar ist, müssen wir die Lebensgeschichten der Menschen anhören und weitergeben. Sonst glaubt es irgendwann niemand mehr.«
Respekt Die Schülerin ist beeindruckt, dass die Überlebenden ihre sehr persönlichen Erlebnisse mit Fremden teilen. »Zipora hat den Horror ja jedes Mal wieder vor ihren Augen, wenn sie darüber spricht. Es muss ihr großen Schmerz zufügen. Und dennoch tut sie es immer wieder, weil sie daran glaubt, dass ihr Erzählen über diesen unmenschlichen Hass dazu beiträgt, dass es nie wieder geschieht. Davor habe ich großen Respekt.«
»Die Initiative kam von den Schülern allein«, erzählt Klassenlehrerin Inbal Lizorik. »Vor zwei Monaten hatten sie einen Projekttag über die Schoa und anschließend wollten sie Menschen treffen, anstatt nur abstrakt darüber zu lernen.« Die Lehrerin ließ die Kinder selbst machen. »Sie entschieden sich für ein Projekt, das ihren Talenten entspricht, also Musik, Kunst und Theater. Bei allem binden sie die Überlebenden ein.«
Den Tag, an dem die zwölf Frauen und Männer in die Klasse kamen, hat die Lehrerin als besonders bereichernd empfunden: »Es war unglaublich, die Chemie zwischen den Überlebenden und den Schülern stimmte einfach. Viele der Menschen waren etwa im selben Alter, als ihnen die schrecklichen Dinge passierten.« Anfangs hätten sich einige der Überlebenden schwergetan, Persönliches preiszugeben. »Doch dann ließen sich schließlich alle auf die Kinder ein.«
Enkel »Dieser Tag war wirklich aufrüttelnd«, findet auch Noam. Die Schülerin sprach mit einer Frau, die in Polen geboren wurde. Sie wurde mit ihrer Schwester gerettet, weil sie falsche Ausweispapiere erhielt. »Sie hatten immer Angst, entdeckt und umgebracht zu werden. Sie waren doch Kinder. Das ist unfassbar für uns.« Trotz ihrer fürchterlichen Erlebnisse hätten die Menschen eine gewisse Lebensfreude ausgestrahlt und gern erzählt, sagt Noam. »Wir haben uns gefühlt wie ihre Enkelkinder.«
Ihr habe das Treffen deutlich gemacht, »dass wir das Gute und alles, was wir haben, mehr schätzen müssen«. Diese Erlebnisse müssten weitergegeben werden, sagt das Mädchen. »Wenn wir das tun, glaube ich sogar, dass irgendwann aller Antisemitismus in der Welt ausgerottet werden kann.«
Die Bedeutung dieser Treffen bestätigt Tali Rasner, Leiterin von Amcha Tel Aviv: »Es ist nicht nur ein wundervolles Projekt, es ist auch sehr wichtig.« Die Überlebenden, die heute alle zwischen 80 und 90 Jahre alt sind, würden auf diese Weise spüren, dass ihre Mühen, am Leben zu bleiben und nach Israel zu kommen, nicht umsonst waren.
»Sie sehen, dass die junge Generation im jüdischen Staat ihnen zuhören will, sich um sie sorgt. Sie bekommen dadurch das Gefühl der Zugehörigkeit. Ein grundlegendes menschliches Bedürfnis, das von den Nazis zerschmettert wurde.« Es sei eine Sache, nach Auschwitz zu fahren, doch es sei etwas anderes, einem Menschen in die Augen zu schauen, während er über seinen persönlichen Schmerz spricht.
Erlebnisse dieser Art seien es, die die innere Welt der Schoa-Überlebenden heilen, ist Rasner sicher. »Sie fühlen sich dadurch als Menschen angenommen, sind nicht nur eine Seite in einem Geschichtsbuch. Die Menschen werden gesehen und gebraucht, sie haben allen Grund zu leben. Für die Jugendlichen sind diese Gespräche positiver Einfluss und Inspiration. Beide Seiten sehen: Es gibt eine Zukunft. Und das ist der Sieg des Guten über das Böse.«
Kontakt Die Leiterin betont, dass die Überlebenden im Sozialklub von Amcha auch Deutsche treffen und mit ihnen reden. »Sie haben einen Weg gefunden, nicht zu hassen. Sie vergessen nicht und vergeben den Nazis nicht. Aber sie vergeben den folgenden Generationen in Deutschland.« Nach dem Besuch im Kfar Hayarok sprach Rasner mit den Teilnehmern. »Unglaublich, sie waren regelrecht high von dem Treffen mit den Kindern. Es ist sehr schön zu sehen, wie gut so etwas den Frauen und Männern tut.«
Auch Chanoch Lerer war dabei. »Es war ein einmaliges Erlebnis«, sagt der 83-Jährige, der aus Polen stammt. Zwar habe er seine Geschichte schon öfter vorgetragen, doch dieses Mal sei es besonders gewesen. »Alles war so wundervoll, obwohl es ja lange und schlimme Geschichten sind. Ich habe gespürt, wie die Kinder nicht nur aufmerksam zugehört, sondern mit mir mitgefühlt haben. Sie alle sind wie meine eigenen Enkel.«
Der Kontakt zwischen den Beteiligten soll aufrechterhalten werden. Als Nächstes sind die Schüler zum gemeinsamen Singen in den Klub eingeladen. Im Anschluss an das Treffen in der Schule hätten sie sich noch lange unterhalten, Fotos gemacht und Facebook-Adressen ausgetauscht. »Und nun habe ich viele Kinder als Facebook-Freunde«, freut sich Chanoch Lerer und strahlt. »Doch mehr als das – ich bin als anderer Mensch aus dieser Klasse gegangen. Ganz voller Liebe.«