Von einem Saal im Kibbuz Misgav Am eröffnet sich der Blick durchs Panoramafenster bis weit hinein ins Nachbarland. Der Kibbuz im Norden Israels wurde 1945 gegründet. Er liegt auf einer kleinen Anhöhe. Daher ist von hier aus der Süden des Libanon in seiner ganzen Breite einsehbar – vom Mittelmeer bis zum Berg Hermon.
Dörfer Die Dörfer an der Grenze, sagt Josef Abas, werden heute von der Hisbollah kontrolliert, der schiitischen Miliz, an deren Spitze der iranische Revolutionsführer Ajatollah Chamenei steht und deren Generalsekretär und Oberbefehlshaber Hassan Nasrallah ist.
Die von vielen Ländern als Terrororganisation eingestufte Miliz, die als Partei auch Sitze im libanesischen Parlament innehat, ist an allen Zufahrtsstraßen postiert. Unter vielen der Häuser, die man sieht, seien Raketen deponiert, die man nicht sieht, sagt Abas. Die Hisbollah halte sich jedoch nicht nur versteckt, sagt Josef Abas und zeigt auf zwei klar erkennbare Stellungen der Terrororganisation. Auf die Frage, wie er angesichts dieser Bedrohung in Misgav Am an der Grenze zum Libanon leben könne, antwortet der achtfache Großvater mit dem Hinweis darauf, dass man nirgendwo vor Terroristen sicher sei. In Misgav Am habe man sie wenigstens im Blick.
GRENZE Josef Abas wurde 1941 in Rotterdam geboren. Dort überlebte er den Zweiten Weltkrieg, versteckt bei einer christlichen Familie. Abas verlor 107 Angehörige in der Schoa. Als er acht Jahre alt war, trat er der zionistischen Jugendbewegung HaBonim bei. Da er es nicht für ausgeschlossen hielt, dass sich der Massenmord an den Juden in Europa wiederholen könnte, entschied er 1965 im Alter von 24 Jahren, nach Israel auszuwandern. Im Kibbuz Naoth Mordechai lernte er seine spätere Frau kennen und gründete eine Familie.
Die libanesischen Nachbarn jenseits der Grenze halfen früher bei der Apfelernte.
Seit 1977 lebt Josef Abas in Misgav Am. Hier betreibt er das weltweit einzige Museum für Flaschenöffner und Korkenzieher. Abas erzählt, dass die Israelis mit den einfachen Libanesen auf der anderen Seite der Grenze nie ein Problem hatten. Die libanesischen Nachbarn haben früher sogar bei der Apfelernte im Kibbuz geholfen; und Bewohner von Misgav Am wurden zu Hochzeiten im Grenzdorf Adaisseh eingeladen.
Doch das änderte sich, als palästinensische Terroristen in den 70er-Jahren aus Jordanien vertrieben wurden und sich im Süden des Libanon festsetzten, erzählt Josef Abas, und Israel zum Ziel von Raketen und Attentaten aus dem Norden wurde.
Nach dem »Küstenstraßen-Massaker« 1978, dem 38 Israelis zum Opfer fielen, darunter 13 Kinder, befahl der damalige Premierminister Menachem Begin, die Terroristen anzugreifen und von der Grenze wegzudrängen. Während dieser Kämpfe waren die Bewohner von Misgav Am gezwungen, zwei Wochen in den Bunkern auszuharren. Die Terroristen indes, erzählt Josef Abas, kamen nur wenige Wochen später zurück.
ATTACKE In der Nacht vom 7. April 1980 drangen fünf Terroristen nach Misgav Am ein und attackierten das Kinderhaus. Sie erschossen den Sekretär des Kibbuz, der zu diesem Zeitpunkt am Kinderhaus Reparaturen vornahm und sich den Angreifern in den Weg stellte, um ihnen den Eingang zu versperren.
Die Terroristen verschanzten sich mit sieben Geiseln – sechs Kleinkindern im Alter zwischen neun Monaten und zweieinhalb Jahren sowie dem Kibbuzbewohner Meir Peretz – im zweiten Stock. Ein Versuch, das Gebäude zu stürmen, ging schief und ließ einen Soldaten an der durchbrochenen Eingangstür tot zurück. Danach begannen Psychologen, mit den Geiselnehmern zu verhandeln. Josef Abas schluckt. Darüber zu sprechen, fällt ihm sichtlich schwer. Auch nach so langer Zeit.
Stunden später kamen die Israelis den Forderungen der Terroristen scheinbar nach. Daraufhin verlangten diese einen Helikopter – der tatsächlich eine Stunde später lärmend über das Kinderhaus flog. Als die Terroristen damit rechneten, evakuiert zu werden, griff eine Antiterroreinheit der israelischen Armee, unterstützt von einer Hundestaffel, an. Nach wenigen Minuten waren die Geiselnehmer ausgeschaltet. Die Erstversorgung der Kinder und der Verwundeten lief mit Hochdruck an.
SANITÄTER Unter den Helfern war auch Josef Abas, der in der israelischen Armee zum Sanitäter ausgebildet worden war. Sofort zu Beginn der Geiselnahme hatte er Ärzte und zusätzliche Sanitäter angefordert. Inmitten der Anstrengung, alle verwundeten Kinder und Soldaten zu versorgen, sei ein verzweifelter Vater zu ihm gekommen, erinnert sich Josef Abas, und habe nach seinem Sohn gefragt. Abas habe ihn gebeten, sich noch einmal alle Kinder, die verbunden und damit schwer kenntlich waren, anzusehen. Sein Sohn sei nicht darunter, habe der Vater gerufen, und Josef ging mit ihm ins Haus, wo sie den Zweijährigen tot auffanden.
Die Region kommt nicht zur Ruhe – immer wieder gibt es gewaltsame Auseinandersetzungen.
»Als die Kinder anfingen zu schreien, waren die Terroristen nervös geworden und hatten die erwachsene Geisel, Meir Peretz, gezwungen, sie zu beruhigen«, erzählt Abas. »Dem Kind, das nicht aufgehört hatte zu weinen, schlugen sie den Schädel ein«, sagt der 78-Jährige sichtlich bewegt. Die Erinnerung daran lässt ihn bis heute nicht los.Auch in den folgenden Jahren kam Misgav Am nicht zur Ruhe. 1981 eskalierten die Spannungen an der Nordgrenze, und Misgav Am geriet unter schweren Raketenbeschuss, dem die Bewohnerin Tzipi Yesod zum Opfer fiel.
Als palästinensische Terroristen am 3. Juni 1982 den israelischen Botschafter in Großbritannien bei einem Anschlag lebensgefährlich verletzten, starteten die israelischen Streitkräfte die Operation »Shalom HaGalil«. Es gelang der Armee, die führenden palästinensischen Terroristen nach Tunesien zu verdrängen. Ein angestrebter Friedensschluss mit dem Libanon unter dem pro-israelischen christlichen Präsidenten Gemayel kam nach dessen Ermordung indes nicht zustande.
Die Israelis zogen sich 1985 in eine ausgewiesene Sicherheitszone im Süden des Libanon zurück, deren Kontrolle sie hauptsächlich der von Christen dominierten Südlibanesischen Armee (SLA) überließen. Um 1985 entstand in dieser Gemengelage die Hisbollah, die zum erbitterten Feind der Israelis und der SLA wurde. 2000 zog sich Israel ganz aus dem Libanon zurück.
TUNNEL Abas sagt, dass der Rückzug aus Sicht der Misgav-Am-Bewohner gut war, »weil wir keine Soldaten mehr verloren haben, aber insofern nicht so gut, da unsere Nachbarn seither nicht mehr befreundete Libanesen sind, sondern die Hisbollah«. Nach dem Rückzug aus dem Libanon übernahm die Armee die Verteidigung des Kibbuz. In der Folgezeit aber kam es zu regelmäßigen gewaltsamen Auseinandersetzungen an der Grenze. Während des zweiten Libanonkrieges geriet Misgav Am mehrfach unter Beschuss, sodass die Kinder aus dem Kibbuz fortgebracht wurden, während die Erwachsenen blieben.
Josef Abas ist sicher, dass die israelischen Streitkräfte auf einen nächsten Konflikt mit der Hisbollah besser vorbereitet sind als 2006. Ein Indiz dafür ist für ihn die Zerstörung der Tunnel, über die die israelischen Ortschaften an der Nordgrenze angegriffen werden sollten.
Inzwischen hat die Armee eine hohe Mauer um den Kibbuz gezogen. Die Grenze werde rund um die Uhr mit modernster Technik überwacht, sagt Abas. Das Wissen darum helfe ihm, nachts besser zu schlafen – auch jetzt, nachdem die Hisbollah Raketen auf Israel abfeuerte und sich die Lage wieder zuspitzt.