Professor Hagai Levine ist in höchster Alarmbereitschaft. Der Leiter des medizinischen Einsatzteams des Forums für Geiseln warnt, dass die Geiseln, die noch immer in der Gewalt der Hamas in Gaza sind, nicht mehr lange überleben könnten. Das hätte der Zustand der befreiten Männer Eli Sharabi, Ohad Ben Ami und Or Levy eindeutig gezeigt, betonte Levine im Gespräch mit israelischen Medien.
Die Israelis waren am Samstag durch den Waffenstillstands- und Geiselbefreiungsdeal extrem unterernährt zurück nach Hause gekommen. »Wie wir gewarnt haben, schweben alle Geiseln in akuter Lebensgefahr«, machte Levine klar. »Doch man sollte nicht überrascht sein, dass Menschen, die aus der Hölle kommen, so aussehen.« Es sei das Ergebnis unvorstellbaren Leidens: Hunger, Durst, Dunkelheit, körperliche und psychische Misshandlung, mangelnde medizinische Versorgung sowie Isolation, führte der Mediziner aus.
Er betonte auch, dass der Zustand der noch in Gaza verbleibenden 76 verschleppten Menschen möglicherweise noch schlechter sei als der der am Samstag freigelassenen. »Und jeder Tag in Gefangenschaft bringt sie weiter in Lebensgefahr.«
Levine fordert die Israelis auf, auf die Straßen zu gehen
Levine forderte die Israelis auf, für die sofortige Freilassung der Geiseln auf die Straßen zu gehen. »Wir müssen jetzt handeln. Seid nicht nur schockiert. Werdet aktiv. Geht auf die Straße, erhebt eure Stimme und verlangt, dass auch die letzte Geisel gerettet wird.« Außerdem müsse jedem klar sein: »Eine vollständige Genesung ist unmöglich, solange ihre Mitgefangenen in den Händen der Hamas bleiben.«
Im Sheba Medical Center und im Ichilov Krankenhaus haben sich die Mediziner bereits eine Weile auf die Aufnahme und Behandlung der Geiseln vorbereitet, die rund um die Uhr stattfinden wird. Levy und Sharabi sind ins Sheba Medical Center eingewiesen worden, Ben Ami befindet sich im Ichilov.
Yael Nir-Frankel, die Direktorin des Sheba Medical Center, sagte in einer Pressekonferenz, dass die Folgen von 491 langen Tagen in Gefangenschaft bei den beiden Rückkehrern deutlich zu erkennen seien. »Menschen so lange gefangen zu halten, bedeutet eine drastische Verschlechterung ihres Gesundheitszustands.«
»Der Körper kann nach so langer Entbehrung nicht sofort eine normale Ernährung vertragen.«
Die medizinischen Teams seien besonders besorgt über extremen Muskelschwund und hervorstehende Knochen, die auf langfristigen Hunger hindeuten. Die lange Gefangenschaft in völliger Dunkelheit habe möglicherweise zu einem schweren Vitamin-D-Mangel geführt, der sich auf Knochenstärke, Immunfunktion und Organgesundheit auswirkt. Es könne sogar innere Organschäden infolge anhaltender Unterernährung, Dehydrierung und möglicher Misshandlung bei den Befreiten geben.
Eine der gefährlichsten medizinischen Herausforderungen, denen die ehemaligen Geiseln jetzt gegenüberstehen, ist das Refeeding-Syndrom, ein potenziell tödlicher Zustand, der auftritt, wenn ein unterernährter Körper nach langer Entbehrung wieder Nährstoffe erhält. Dies kann schwere Elektrolytstörungen, Herzversagen und Organversagen auslösen.
Dr. Yoav Hoffman, Oberarzt in der Ernährungsabteilung des Ichilov-Krankenhauses, erläuterte die damit verbundenen Risiken: »Der Körper kann nach so langer Entbehrung nicht sofort eine normale Ernährung vertragen. Wir müssen die Nahrung vorsichtig einführen und den Elektrolytspiegel, die Organfunktion und die Herzgesundheit überwachen, um Komplikationen vorzubeugen.«
Gesundheitsministerium spricht von »schwierigen Szenen«
Um das Risiko dieses Refeeding-Syndroms zu mindern, beinhalten die Teams in den Krankenhäusern auch Ernährungs-, Kardiologie, Neurologie- und Traumatherapie-Spezialisten. Die Nahrungsaufnahme soll vorsichtig wieder ermöglicht und dabei auf eventuelle Komplikationen geachtet werden.
Von »schwierigen Szenen« sprach auch die Leiterin der Abteilung für Allgemeinmedizin im Gesundheitsministerium. Hagar Mizrahi, in einer Pressekonferenz im Ichilov-Krankenhaus. Die drei Geiseln würden an schwerer Unterernährung leiden und haben während ihrer 491 Tage in Gefangenschaft erheblich an Körpergewicht verloren. Das hätten medizinische Untersuchungen in den ersten Stunden nach ihrer Freilassung ergeben. Allerdings fügte sie hinzu, dass die Ärzte »auch begeistert waren, sie auf ihren eigenen zwei Beinen gehen zu sehen – aufrecht und stolz«.
Man müsse auch bedenken, so Mizrahi, dass die Familienangehörigen der Geiseln ebenfalls Betreuung benötigten. »Sie waren in den vergangenen 16 Monaten damit beschäftigt, für die Freilassung ihrer Lieben zu kämpfen, dass sie keine Zeit hatten, sich um sich selbst zu kümmern.« Man werde ihnen eine breite Palette von Therapien anbieten, die sowohl auf ihre körperlichen als auch auf ihre emotionalen Bedürfnisse zugeschnitten seien.