Orla ist ein kleines Mädchen mit langen braunen Locken. Sie ist drei Jahre alt. Ihre dunklen Augen blicken ins Nirgendwo. Die Beinchen sind merkwürdig verkrümmt, die kleinen Händchen zu Fäusten geballt. Aus Orlas Mund läuft Speichel. Das Kinderbettchen ist ein Krankenbett, denn Orla ist krank, sehr sogar. Seit 18 Monaten liegt die Dreijährige im Koma, weil sie eine Flasche mit Bleichmittel aus dem Schrank unter der Spüle in der Küche ihrer Großmutter fischte und daraus trank. Seit diesem Moment ist nichts mehr, wie es einmal war.
»Wenn wir uns auf unseren Mobiltelefonen Fotos zeigen, dann sind es zumeist die Bilder unserer Kinder«, sagt Doron Almog, der Gründer von Aleh Negev, jenem Ort, an dem Kinder wie Orla, aber auch Jugendliche und Erwachsene mit schwersten geistigen Einschränkungen ein würdevolles Zuhause mit der bestmöglichen Betreuung haben.
»Als mein Sohn Eran zur Welt kam, gaben wir ihm den Namen meines Bruders, der im Krieg tödlich verwundet wurde – wir gaben Eran diesen Namen, weil wir voller Hoffnung waren«, sagt Doron Almog. »Kinder sind unser ganzer Stolz. Wir übertragen auf sie all unsere Träume und Wünsche. Stark sollen sie werden, mutig und klug. Es soll ihnen gelingen, was uns nicht gelang, unsere Töchter und Söhne sind unser Alter Ego.«
»Dann ist da dieser eine Augenblick, wenn der Patient mich erkennt – das ist jede Mühe wert.« Clarissa, Freiwillige
Doch als die Ärzte seiner Frau Didi und ihm 1984 sagten, dass nichts mit ihrem Baby in Ordnung sei, dass Eran niemals Ima we-Abba (Mama und Papa) sagen, er weder allein laufen noch essen oder sich würde anziehen können, fielen Didi und Doron Almog in ein tiefes Loch. Denn gleichzeitig mit der schockierenden Nachricht, dass ihr Sohn eine schwere geistige Behinderung hat, kam die Sorge: Was wird aus Eran, wenn wir einmal nicht mehr da sind?
Die Suche nach einem schönen Platz für seinen Sohn Eran änderte das Leben von Doron Almog dramatisch. Der hochdekorierte General der israelischen Armee musste mit eigenen Augen mitansehen, wie sehr Kinder wie sein Sohn unter dem Unverständnis der Gesellschaft leiden.
»Wir sahen Heime für Kinder mit geistigen Einschränkungen, für die es keine Worte gibt. Stinkig, dunkel, würdelos. Die Sozialarbeiter waren nicht stolz. Sie arbeiteten nicht für Facebook, Coca-Cola oder ein erfolgreiches Start-up-Unternehmen. Sie betreuten geistig behinderte Menschen. Ihre Arbeit war ihnen peinlich. Die Heime waren namenlose, dunkle Verstecke für Kinder, die keiner wollte, für die sich deren Eltern schämten.«
Am traurigsten aber war die Angst der Kinder dort. Verängstigt schauten sie auf die Erwachsenen, die nicht ihre Eltern waren. Verängstigt schauten sie in eine Welt, die sie nicht verstanden.
STREICHELZOO Der Ex-General gründete Aleh Negev, ein kleines Dorf im Süden Israels. Hier beginnt die Negevwüste. Die Großstadt Beer Sheva ist 26 Kilometer entfernt. Aleh Negev – das sind 25 Hektar voller Liebe, Geduld und Aufmerksamkeit. Es gibt einen öffentlichen Kindergarten, weil es wichtig ist, dass schon die jüngsten Mitglieder einer Gesellschaft lernen, keine Scheu vor Menschen mit Handicaps zu haben.
Eine Gesellschaft sei genau so stark wie ihr schwächstes Mitglied, meint Doron Almog.
Eine Gesellschaft sei genau so stark wie ihr schwächstes Mitglied, meint Doron Almog. Hier in Aleh Negev treffen alle aufeinander: Menschen, die einen Autounfall hatten und wieder laufen lernen müssen, Genesende nach einem Schlaganfall, Soldaten, die verletzt wurden und orthopädische Therapien bekommen, Kinder, die ihr ganzes Leben lang auf Hilfe angewiesen sind.
Es gibt ein großes Schwimmbecken, gut ausgebildete Ärzte, Krankenschwestern, Pfleger und Therapeuten. Es gibt einen Streichelzoo mit Ziegen und Pferden, es gibt eine eigene Gärtnerei, in der Frauen und Männer arbeiten, die sonst nirgendwo einen Job finden würden, weil sie geistig eingeschränkt sind.
VOLUNTEERS Und dann gibt es junge Mädchen wie Amelie und Clarissa, 19 und 18 Jahre alt, Abiturientinnen aus Deutschland, die hier in Aleh Negev ein Freiwilliges Soziales Jahr leisten. Beide waren schon als Kinder aktive Mitglieder der Kirche, Amelie als Pfadfinderin, Clarissa besuchte eine evangelische Schule und diverse Veranstaltungen der Kirche. Amelie und Clarissa sind zwei von 200 Freiwilligen, die die Menschen in Aleh Negev hingebungsvoll betreuen.
»Die Frühschicht beginnt um sieben Uhr. Wir kümmern uns um genau einen Patienten. Wir füttern ihn, wir sprechen mit ihm, wir schenken ihm Aufmerksamkeit, wir sind einfach für ihn da. Er ist nicht allein«, erzählen die beiden Mädchen so selbstverständlich, als wäre es das Normalste der Welt.
Bevor sie nach Israel ging, verliebte sie sich. Aber deswegen Aleh Negev abzusagen, kam für sie nicht infrage.
Dabei hatte Clarissa, gleich nachdem sie entschieden hatte, mit dem Freiwilligen Ökumenischen Friedensdienst für ein Jahr nach Israel zu gehen, ihren Freund kennengelernt. Er ist die erste große Liebe in ihrem Leben. Natürlich ist die Sehnsucht groß, denn eine WhatsApp-Sprachnachricht ist einfach nicht dasselbe wie zusammen ins Kino zu gehen.
Aber deswegen Aleh Negev abzusagen, kam für Clarissa nicht infrage. »Ich komme hier nicht nur an meine Grenzen, ich muss über sie hinausgehen. Aber dann ist da dieser eine Augenblick – der Patient, den ich seit zwei Monaten betreue und der bisher stets schweigt, gibt ein leises Glucksen von sich, wenn ich ihn streichle: Er erkennt mich. Das ist jede Mühe wert.«
TASCHENGELD Die Mädchen wohnen im drei Kilometer entfernten Nachbarort. Sie sind in Viererzimmern untergebracht, man teilt sich ein Bad. Luxus sieht anders aus, aber deswegen sind sie ja nicht hier, auch wenn der Freiwillige Ökumenische Friedensdienst ihnen ein monatliches Taschengeld in Höhe von 100 Euro zahlt.
Amelie sucht nach einer Begründung: »Es war für mich immer klar, dass ich nach der Schule, bevor ich anfange zu studieren, ein Freiwilliges Soziales Jahr machen würde. ›Work and Travel‹ hat mich nicht interessiert. Ich habe schon bei den Pfadfindern gelernt, Verantwortung zu übernehmen.«
Sie könne im Moment noch nicht sagen, was das Jahr in Aleh Negev mit ihr machen wird. »Aber die Tatsache, dass keiner von uns vor schlimmen Schicksalsschlägen gefeit ist, dass man jederzeit auf Hilfe anderer angewiesen sein kann, ist schon sehr in meinem Bewusstsein.«
»Keiner von uns ist vor Schicksalsschlägen gefeit – das ist mir sehr bewusst.« Amelie, Freiwillige
Die Kinderzimmer von Amelie und Clarissa zu Hause in Deutschland sind noch unverändert. Wirklich vermisst werden sie von den Mädchen nicht. Hin und wieder wünschen sie sich, selbst über ihre Zeit bestimmen zu können. Etwas Privatheit zu haben. Aber genau dann blinzelt einer der Patienten, um die sich Amelie und Clarissa kümmern. Es heißt: Schön, dass es dich gibt.
ZUHAUSE Doron Almog versteht sich selbst als Volunteer. Er ist sieben Tage die Woche 24 Stunden für Aleh Negev erreichbar – freiwillig und unentgeltlich. Er gründete Aleh Negev einst, um sicherzugehen, dass sein Sohn Eran immer ein gutes Zuhause haben würde. Inzwischen ist Aleh Negev ein Ort für 140 Menschen geworden, die hier fest leben – Männer und Frauen, die nichts allein machen können. Kleine Mädchen wie Orla, für die innerhalb weniger Minuten ihre Welt zusammenbrach.
Doron Almog steht kerzengerade. Sein Gang ist aufrecht. Energisch. Er weiß genau, was er will. Stets war er derjenige, der die Befehle gab, der entschied, was zu tun ist. Bis sein Sohn in sein Leben trat. »Eran hat nie mit mir gesprochen. Er konnte es nicht. Aber seine Augen sagten alles.«
Der Aleh-Gründer ist sich sicher, dass Erans Seele durch all die lichten, freundlichen Räume schwingt. Sie lacht. Sie ist glücklich. Das weiß Doron Almog, auch wenn es sein Sohn nie zeigen konnte. »Möge Eran in Frieden ruhen. Er ist mein geliebter Sohn, mein besonderer Spirit. Er hat mich zu einem besseren Menschen gemacht.«