Irgendwie ist es genug. Es ist genug, dass es wieder eine Welle des Terrors in Israel gibt und der ewige israelisch-palästinensische Konflikt nicht von der Stelle kommt und sich niemand mehr bemüht, dem sogenannten Friedensprozess neues Leben einzuhauchen.
Es ist genug, dass möglicherweise die aktuelle Regierung kippt und Israel mal wieder in eine politische Dauerkrise geraten könnte, weil die Egos und der persönliche Machtanspruch einiger weniger offensichtlich wichtiger zu sein scheinen als die Stabilität des Landes.
Es ist genug, dass wieder einmal Juden und Nichtjuden aus einem Kriegsgebiet fliehen müssen wie jetzt in der Ukraine.
In diesen Tagen kann man nur noch Fragen stellen. Wir haben keine Antworten.
Es ist genug, dass Israel, aber auch alle Welt so tut, als sei die Corona-Pandemie vorbei, und immer mehr Regierungen alle Schutzmaßnahmen aufgehoben und damit die Schwächsten und Verletzlichsten sich selbst überlassen haben. Solidargemeinschaft sieht anders aus.
Es ist genug, dass im Land der Revolution ein jüdischer und eine nichtjüdische Präsidentschaftskandidatin mit Ausländerfeindlichkeit punkten wollten und ziemlich gut abschnitten. Es ist genug. Es ist einfach genug. Die Liste könnte noch viel länger sein. Viel, viel länger.
PANDEMIE Wenn wir uns nun zum Seder zusammensetzen (hoffentlich alle getestet!) und das Fest der Freiheit feiern wollen, dann müssen wir uns schon sehr viel Mühe geben, in diesem Jahr in Fröhlichkeit auszubrechen. Wir waren Sklaven und sind Kinder der Freiheit geworden, so heißt es an Pessach. Doch wie müssen wir Freiheit heute definieren? Wie frei sind wir wirklich nach zwei Jahren Pandemie und Lockdowns?
Wie frei sind die Frauen und Kinder in der Ukraine, die in diesen Tagen und Wochen fliehen und zusehen müssen, wie ihre Männer für genau das kämpfen: für die Freiheit? Wie frei sind die Israelis, die sich jetzt wieder in jedem Kaffeehaus dreimal umdrehen werden, um zu sehen, ob Gefahr droht? Und wie frei ist Israel, das sich Feinden gegenübersieht, die immer lauter den Untergang des jüdischen Staates wollen?
Aber sind denn Palästinenser frei? Und jenseits der besetzten Gebiete, sind die Menschen in Syrien, im Libanon, im Iran, in Saudi-Arabien frei? Sind Juden in Frankreich noch frei oder in Deutschland oder irgendeinem anderen europäischen Land, wo sie seit Jahren mit wachsendem Antisemitismus konfrontiert sind? Es ist doch wirklich genug, nein? Von welcher Freiheit reden wir? Innere Freiheit? Kann es wirklich nur die innere Freiheit sein?
REVOLUTIONÄRE Anders als viele Religionen oder Philosophien, die Freiheit – um es sehr vereinfacht zu sagen – als eine Aufgabe der Seele begreifen, unabhängig von den äußeren Umständen, war das Judentum immer politisch.
Der physische Auszug aus Ägypten und die 40-jährige Wanderung durch die Wüste sollte die Menschen in die innere, aber auch in die äußere Freiheit führen. Am Ende dieses Weges stand ein unabhängiger Staat, in dem man frei und selbstbestimmt leben konnte.
Judentum fordert auch politische Freiheit, nicht nur die Freiheit der Seele. Es ist kein Wunder, dass viele Revolutionäre und Freiheitskämpfer in der Geschichte Juden waren. Dabei kämpfte man stets um die Freiheit aller, nicht nur der Juden.
Wie frei sind die Israelis, die sich jetzt wieder in jedem Kaffeehaus dreimal umdrehen werden?
Der jüdische Präsident der Ukraine, Wolodymyr Selenskyj, ist unfreiwillig so ein Freiheitskämpfer geworden. Wird es ihm gelingen, seine Nation in die Freiheit zu führen, wie Moses die Juden aus Ägypten?
STABILITÄT Können Naftali Bennett und Yair Lapid die Erosion ihrer Regierung verhindern, um Israel politische Stabilität zu ermöglichen und eine neue endlose Runde von Wahlen und Stagnation zu verhindern?
Werden die Franzosen es schaffen, dem ausgrenzenden Nationalismus und Fremdenhass die Grenzen aufzuzeigen?
Werden die westlichen Staaten in der Lage sein, ihre Freiheit jetzt ganz konkret zu schützen und zu verteidigen?
Wohin driftet die Welt? Und was kann Pessach uns in diesen Zeiten geben? Dayenu – es ist genug? Also die Dankbarkeit für alles, was wir haben, denn es ist mehr als genug? Gewiss. Diese Predigt kennen wir alle. Wir wissen das. Und leben nur in den seltensten Fällen danach.
GEWISSHEITEN Und dabei haben wir uns in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten kaum noch Gedanken gemacht, was Freiheit wirklich bedeutet. Wir glaubten, sie zu haben. Wir hatten sie sogar. Wir mussten uns scheinbar keine Gedanken um sie machen. Aber nun müssen wir es wieder. In Israel sowieso. Aber auch in Europa. Überall auf der Welt.
Werden wir begreifen, dass allein schon die Abwesenheit von Krieg ein unerhörtes Gut ist? Werden wir auch begreifen, dass man dieses Gut verteidigen muss, notfalls mit Waffen? Können wir das? Sind wir in der Lage dazu? Können die Generationen von heute »Freiheit«?
In diesen Tagen kann man nur noch Fragen stellen. Wir haben keine Antworten. Die alten Formeln taugen nichts mehr, die Gewissheiten sind vorbei, die Überzeugungen erschüttert.
Es gibt nur noch das Hier und das Jetzt. Prognosen? Unmöglich. Planungen? Sinnlos.
Wir sind zurückgeworfen auf die existenziellste aller Lebensrealitäten. Es gibt nur noch das Hier und das Jetzt. Prognosen? Unmöglich. Planungen? Sinnlos. Visionen? Zerbröselt. In unserer Freiheit, die wir hatten, glaubten wir, vieles, nicht alles, doch bestimmen zu können. Das scheint nun vorbei.
Wenn wir uns jetzt an den Sedertisch setzen, werden wir die Haggada neu lesen müssen. Sind die Zehn Plagen die asymmetrische Kriegsführung gegen einen übermächtigen Gegner? Ist Pharao nicht Putin? Oder zumindest Chamenei oder wer auch sonst immer?
MOSES Dass ausgerechnet ein ehemaliger Komiker zur Führungsfigur einer Nation im Krieg geworden ist, erinnert daran, dass Moses ein Stotterer war. Beide Menschen, denen man alles zugetraut hätte, nur nicht Führungsqualitäten.
Die Haggada kann man also in diesem Jahr sehr wohl als eine Allegorie auf aktuelle Ereignisse sehen. Wie heißt es: Wir sollen die Geschichte vom Auszug aus Ägypten lesen und uns bewusst machen, dass wir in jeder Generation selbst Sklaven sind und nach Freiheit streben müssen.
Wer sich in diesen Tagen in Ruhe an einen Sedertisch setzen kann, kann mit Recht sagen: Dayenu. Dieses Privileg allein ist schon genug. Und vielleicht wird die Haggada diesmal anders gelesen. So, dass sie in der Welt unserer Tage zu echtem Engagement führen wird. Um unsere Freiheit zu schätzen, zu bewahren und notfalls auch zu verteidigen. Die Freiheit aller.
Der Autor ist Editor at Large bei der ARD, Publizist und lebt in Tel Aviv.