Der lang ersehnte Impfstoff gegen das Covid-19-Virus ist in Israel eingetroffen. Doch neben Freude und Erleichterung löst das Mittel im jüdischen Staat auch Misstrauen und Widerstand aus. Wie etwa bei zwei älteren Herren, die kürzlich vor einer kleinen Bäckerei in einem Tel Aviver Vorort bei Kaffee im Pappbecher miteinander plauderten. »Wann lässt Bibi sich impfen?«, fragte einer von ihnen. »Ich lasse mir diese Impfung jedenfalls nicht geben, solange Netanjahu sie nicht auch bekommt.«
Seit Samstag dürfte der Skeptiker beruhigt sein: Am Abend ließ Benjamin Netanjahu sich im Sheba-Krankenhaus in Ramat Gan vor laufender Kamera von seinem persönlichen Arzt eine Spritze mit dem neuartigen Wirkstoff in den rechten Oberarm setzen. Den Stich ertrug er mit stoischem Gesichtsausdruck. »Eine kleine Injektion für einen Mann, ein großer Schritt für die Gesundheit von uns allen«, sagte er beim anschließenden Herunterkrempeln seines Hemdsärmels – eine Anspielung auf das berühmte Zitat des US-Astronauten Neil Armstrong bei dessen ersten Schritten auf dem Mond.
IMPFPARTY Netanjahu ist der erste Israeli, der sich gegen das Virus impfen ließ, gefolgt von Gesundheitsminister Yuli Edelstein. Am Sonntag trat eine Reihe weiterer Politiker und bekannter Persönlichkeiten zum Pieksen an, darunter Staatspräsident Reuven Rivlin, Finanzminister Israel Katz, der frühere Oberrabbiner Yisrael Meir Lau sowie der frühere staatliche Corona-Beauftragte Ronni Gamzu. Medizinische Einrichtungen begannen am selben Tag zudem mit der Immunisierung ihres eigenen Personals.
»Eine kleine Spritze für einen Mann, ein großer Schritt für die Gesundheit aller«, sagte Netanjahu.
Das Ichilov-Krankenhaus in Tel Aviv, in dem sich am Sonntag die meisten Prominenten stechen ließen, veranstaltete zum Auftakt der Kampagne eine regelrechte Party: Während die ersten Kandidaten die Ärmel hochkrempelten, gab der israelische Popstar Ivri Lider ein Konzert in der Lobby des Krankenhauses, umringt von hüpfenden und tanzenden Ärzten und Pflegern. Die fröhliche Veranstaltung hatte einen ernsten Zweck: Sie sollte die breite Bevölkerung vom Sinn des Impfens überzeugen.
Denn seit Montag können sich in Israel alle Bürger impfen lassen, die über 60 Jahre alt sind oder aus gesundheitlichen Gründen zur Risikogruppe zählen. Anschließend sollen jene Personen an die Reihe kommen, die aufgrund ihres Berufs einem besonderen Ansteckungsrisiko ausgesetzt sind, darunter Lehrer, Sozialarbeiter und Gefängnispersonal. Darauf folgen Soldaten und andere Sicherheitskräfte, und erst danach steht die Impfung dem großen Rest der Bevölkerung offen. Ausgenommen sind bis auf Weiteres schwangere und stillende Frauen, weil die Wirkung des Impfstoffes auf diese Gruppe noch nicht ausreichend erforscht ist. Auch Israelis unter 16 Jahren sowie all jene, die bereits an dem Virus erkrankt waren und geheilt sind, sollen noch warten.
LOGISTIK Derzeit setzt Israel nur den Impfstoff der US-Pharmafirma Pfizer ein. Bis Ende dieses Monats sollen dem Land rund vier Millionen Dosen des Stoffes zur Verfügung stehen. Bis Ende März werden weitere vier Millionen erwartet. Weil für die Immunisierung zwei Impfungen nötig sind, könnte also knapp die Hälfte der neun Millionen Israelis bis Ende März den Impfstoff erhalten, sofern logistisch alles glattgeht. Die israelische Regierung hat außerdem sechs Millionen Impfdosen des US-Herstellers Moderna bestellt. Diese werden laut lokalen Medien allerdings nicht vor April erwartet.
Die Impfungen werden über die vier großen Krankenkassen ausgegeben, die den Gesundheitsmarkt in Israel unter sich aufteilen. Wer sich zum jetzigen Zeitpunkt immunisieren lassen will und darf, muss telefonisch einen Termin ausmachen – was offenbar nicht überall reibungslos funktioniert: So berichten manche Impfwillige über quälend lange Warteschleifen. Der Andrang ist aus Sicht von Gesundheitsexperten jedoch ein ermutigendes Zeichen, nachdem in den vergangenen Wochen viel über die Impfskepsis berichtet wurde, die in Teilen der Bevölkerung verbreitet ist.
Knapp die Hälfte der Bürger ist unsicher, ob der Impfstoff wirklich sicher ist.
In der Tat zeigen mehrere Umfragen, dass die Regierung noch einige Überzeugungsarbeit zu leisten hat, will sie die nötige Immunität in der breiten Bevölkerung herstellen: So bekunden bislang nur 63 bis 64 Prozent der Israelis die Bereitschaft, sich impfen zu lassen. Knapp ein Viertel der Befragten gibt an, nicht zu wissen, ob die Impfung sicher sei; ebenso viele glauben, sie sei es nicht.
ERGEBNISSE Zu den Zweifeln könnten mehrere Facebook-Gruppen in hebräischer Sprache beigetragen haben, die allerlei abenteuerliche Dinge behaupteten: Die neuen Impfstoffe, hieß es dort etwa laut Berichten, würden genutzt, um die Weltbevölkerung zu reduzieren, Überwachungschips in den Körpern der Bürger zu installieren oder geheime Experimente durchzuführen. Auf Verlangen des israelischen Justizministeriums entfernte Facebook vier solcher Gruppen vor wenigen Tagen. »Diese Posts können eine echte Gefahr für die öffentliche Gesundheit darstellen«, sagte Haim Vismonsky, der Direktor der Cyber-Einheit, die für Internetverbrechen zuständig ist und dem Justizministerium untersteht.
Neben dem Widerstand vonseiten der Impfgegner sorgen sich israelische Gesundheitsexperten auch darum, dass die Aussicht auf den Impfstoff die Menschen in ihrem alltäglichen Gebaren nachlässig machen könnte. Die Zahl der täglichen Neuinfektionen ist zuletzt auf fast 3000 gestiegen, den höchsten Wert seit zwei Monaten. Dabei gelten in Israel derzeit noch immer zahlreiche Beschränkungen. Schon spekulieren die Medien über einen möglichen dritten Lockdown.
Der staatliche Corona-Beauftragte Nachman Ash warnte die Bürger am Samstag denn auch vor voreiliger Sorglosigkeit. »Wir werden die Ergebnisse (der Impfungen) erst nach zwei Monaten nach Beginn des Immunisierungsprogramms sehen«, sagte er. »Lasst euch impfen, aber haltet zugleich die Beschränkungen ein!«