»Sie haben keine Zeit mehr!« und »Ihr Blut klebt an euren Händen!« steht auf den Plakaten der Demonstranten, die in ganz Israel lautstark protestieren und Straßen blockieren – mittlerweile jeden Tag. Nach Bekanntgabe des Todes vor vier israelischen Geiseln in der Gefangenschaft der Terrororganisation Hamas drängen Angehörige und Befürworter eines Geiseldeals die Regierung noch mehr, endlich ein Abkommen zuzulassen. Doch der Druck auf die Koalition in Jerusalem kommt noch von anderer Seite: den USA.
Chaim Perri (79), Yoram Metzger (80), Amiram Cooper (84) und Nadav Popplewell (51) waren am 7. Oktober lebend von der Hamas nach Gaza verschleppt worden. Jetzt gaben Sicherheitskräfte ihren Tod bekannt. Kurz zuvor wurde mitgeteilt, dass wahrscheinlich ein Drittel der noch immer verschleppten Menschen im Gazastreifen bereits gestorben sei. Viele der Angehörigen haben ihre Zweifel öffentlich gemacht, ob die israelische Regierung tatsächlich die Befreiung ihrer Liebsten als oberstes Ziel sieht. Jetzt setzen sie ihre Hoffnungen auf einen anderen: US-Präsident Joe Biden. Im Hintergrund steht der Friedensplan, den dieser am vergangenen Freitag vorgestellt hat.
Rückgabe der Geiseln und vollständiger Waffenstillstand
Biden will damit die Rückgabe der Geiseln, sowohl der lebenden als auch der toten, sowie einen vollständigen Waffenstillstand zwischen Israel und der Hamas erreichen. Ein weiteres Ziel ist, dass sich durch ein Ende der Kämpfe in Gaza auch die Nordgrenze zum Libanon beruhigen würde und Zehntausende Menschen in ihre Häuser zurückkehren könnten. Zudem könnte als »Belohnung« für Israel ein Friedensabkommen mit Saudi-Arabien Realität werden. Die »Times of Israel« zitiert eine interne Quelle bei den Verhandlungen mit den Worten, dass die Vermittler seit Monaten nicht mehr so optimistisch hinsichtlich der Chancen auf eine Einigung gewesen seien wie jetzt.
»Es ist Zeit, diesen Krieg zu beenden und den Tag danach zu beginnen.«
US-Präsident Joe Biden
»Jeder, der jetzt Frieden will, muss seine Stimme erheben und den Anführern sagen, dass sie dieses Abkommen annehmen sollen«, sagte Biden. »Es ist Zeit, diesen Krieg zu beenden und den Tag danach zu beginnen.« Der Vorschlag enthält drei Phasen:
Phase eins: sechswöchiger Waffenstillstand, Abzug der israelischen Streitkräfte aus allen besiedelten Gebieten Gazas, teilweise Freilassung von Geiseln, darunter Frauen, Alte und Verwundete, im Austausch für die Freilassung von Hunderten palästinensischen Gefangenen, palästinensische Zivilisten können in ihre Häuser zurückkehren, mindestens 600 Lastwagen täglich mit humanitärer Hilfe für Gaza.
Phase zwei (ausgehandelt während Phase eins): Freilassung aller noch lebenden Geiseln, einschließlich männlicher Soldaten, israelischer Rückzug aus Gaza, dauerhaftes Ende der Feindseligkeiten.
Phase drei: Leichen getöteter Geiseln werden an ihre Familien zurückgegeben, großer Wiederaufbauplan für Gaza.
Resolution beim Sicherheitsrat der Vereinten Nationen
Am Montag reichten die USA dem Sicherheitsrat der Vereinten Nationen eine Resolution ein, in der sie um Unterstützung für Bidens Vorschlag baten. »Zahlreiche Staats- und Regierungschefs, auch in der Region, haben diesen Plan gebilligt, und wir fordern den Sicherheitsrat auf, sich ihnen anzuschließen und die unverzügliche und bedingungslose Umsetzung dieses Abkommens zu verlangen«, sagte die US-Botschafterin bei den Vereinten Nationen, Linda Thomas-Greenfield. »Der Sicherheitsrat muss darauf bestehen, dass die Hamas das Abkommen akzeptiert.«
Während sich Biden bereits um Praktisches kümmert, Vermittler wie Katar und Ägypten aufruft, die Hamas dazu zu bringen, dem Deal zuzustimmen, herrscht in der israelischen Regierung Uneinigkeit. Rechtsextreme Parteien drohen, die Koalition zu stürzen, sollte Netanjahu sich tatsächlich darauf einlassen. Allen voran tönte der Minister für nationale Sicherheit, Itamar Ben-Gvir von der Partei Otzma Yehudit, die Regierung im Falle eines »Ja« zu verlassen. Auch der nationalreligiöse Finanzminister Bezalel Smotrich werde gegen ein Abkommen stimmen, ließ er wissen. Allerdings wolle er sich vorher erst den Rat der Rabbiner seiner Partei einholen.
Ganz anders äußerten sich die ultraorthodoxen Parteien: Der Vorsitzende des Vereinigten Tora-Judentums, Yitzhak Goldknopf, postete ein Foto von sich bei einem Treffen mit Geiselangehörigen auf X und schrieb: »Wir werden jeden Vorschlag unterstützen, der zur Freilassung der Entführten führt.« Kurz darauf gab auch die streng religiöse Sefarden-Partei Schas bekannt, dass sie sich für den Vorschlag ausspreche. »Schas stärkt den Premierminister und das Kriegskabinett, um allen Belastungen standzuhalten, den Deal abzuschließen und das Leben unserer Brüder und Schwestern zu retten, die in Gefangenschaft in Schwierigkeiten sind.« Trotz der Zusicherung seiner charedischen Partner könnte ein Abnicken des Deals das Ende von Netanjahus rechtsreligiöser Koalition bedeuten.
Der Regierungschef beharrte darauf, dass es Differenzen zwischen diesem Vorschlag und der Haltung Israels gebe. »Die Behauptung, wir hätten einem Waffenstillstand zugestimmt, ohne dass unsere Bedingungen erfüllt wurden, ist falsch«, sagte er Abgeordneten laut Protokollen des Treffens, die an israelische Medien durchsickerten.
Die Vermittler waren seit Monaten nicht mehr so optimistisch wie jetzt.
Später gab sein Büro bekannt, dass er mit dem französischen Präsidenten Emmanuel Macron gesprochen habe. »Er hat ihn über die Einzelheiten des Plans zur Befreiung der Geiseln informiert und betont, dass dieser Israel ermögliche, alle von ihm definierten Kriegsziele zu erreichen, darunter die Eliminierung der Hamas.« Netanjahu betonte, dass dies neben der Befreiung der Geiseln ein grundlegendes Ziel des Kriegs war und bleibt. »Und wir sind entschlossen, das zu erreichen.«
In einem Interview mit dem »Time Magazine« antwortete der US-Präsident auf die Frage, ob Netanjahu den Krieg aus eigenen politischen Gründen verlängere: »Die Leute haben allen Grund, diese Schlussfolgerung zu ziehen.« Es ist das erste Mal, dass Biden sich öffentlich so explizit über Israels Premier äußert.
Und doch bestätigte er Israels Bereitschaft, den Vorschlag voranzutreiben, und forderte den Emir von Katar auf, Druck auf die Hamas auszuüben, damit auch diese zustimmt. Doha erklärte am Mittwoch, dass man »bislang noch keine konkrete Zusage erhalten habe, allerdings scheine die Distanz zwischen beiden Seiten geschrumpft zu sein«.
Dem Abkommen zuzustimmen, könnte eine Entscheidung sein, die vieles nach sich zieht: ein vorläufiges oder sogar finales Ende des Krieges, das Aus für die Regierung der Hamas und die Koalition in Jerusalem, ein Hoffnung bringendes Tag-danach-Szenario für die Menschen im Gazastreifen – und ein Überleben der Geiseln, die seit acht langen Monaten nur auf eines warten: ein Ja zu einem Deal.