Es ist Feierabend in Tel Aviv. Pendler mit Laptoptaschen über der Schulter huschen durch die Bahnhöfe der Stadt, um den nächsten Zug in die Vorstadt zu erreichen. Viele werfen einen kurzen Blick auf die Anzeigetafel mit den roten Buchstaben und hasten dann zum Bahnsteig. Ein ganz gewöhnlicher Tag an der Hagana-Station.
Und doch scheint etwas anders: Die Wartenden drängen sich an die Wände, schauen sich nervös um, treten von einem Fuß auf den anderen. Nur einen Tag zuvor wurde hier der junge Soldat Almog Schiloni von einem palästinensischen Angreifer erstochen. Am selben Tag starb eine 26-jährige Israelin ebenfalls bei einer Messerattacke im Westjordanland.
Intifada Das ganze Wochenende über hatten arabische Israelis in mehreren Teilen des Landes demonstriert. In einigen Orten lieferten sich junge Männer Straßenschlachten mit der Polizei. Steine und Molotowcocktails flogen. Bei einem Zwischenfall in Kafr Kana in Galiläa war am Freitag ein 22-jähriger Araber von der Polizei erschossen worden. Am Sonntag brachen daraufhin immer mehr Proteste aus. Arabische Studenten an verschiedenen Universitäten des Landes forderten eine dritte Intifada.
Liron Levy steht mit dem Handy am Ohr neben einem Kaffeeautomaten auf dem Hagana-Bahnsteig Nummer eins und wartet auf den Zug Richtung Norden. Auf die Frage, ob sie sich heute unsicher fühle, zuckt sie mit den Schultern. »Vielleicht ein wenig«, sagt sie und erzählt, dass sie im Zentrum ein Café managt und jeden Tag mit arabischen Kollegen zusammenarbeitet. Ob sie die nun mit anderen Augen sehe? »Das würde ich so nicht sagen. Ich kenne die meisten seit langer Zeit, sie haben mir eben erst gesagt, wie schlimm sie die ganze Situation finden.« Allerdings räumt sie ein, vielleicht bei Neueinstellungen vorsichtiger zu sein. »Aber man kann doch nun nicht alle Araber verdammen, weil einige etwas unfassbar Grausames tun.«
Bruder Für die Familie Schiloni ist das Unfassbare Realität geworden. Der 20-jährige Almog aus Modiin war auf dem Weg zur Bahn, als sich ein junger Palästinenser auf ihn stürzte und mehrmals mit einem Messer auf ihn einstach. Er versuchte offenbar, Schilonis Gewehr zu entwenden. Ein Autofahrer sah den Angriff und eilte zu Hilfe. Der junge Mann wurde mit schwersten Verletzungen ins Krankenhaus eingewiesen und starb noch in derselben Nacht. Der Täter, gab die Polizei an, stammte aus Nablus und hielt sich illegal in Israel auf. Er wurde festgenommen.
Almogs Zwillingsbruder Sahar erzählte anschließend über seinen Bruder: »Er war ein starker Junge, der immer lachte. Vor einem Monat haben wir unseren 20. Geburtstag in einem Pub in Jerusalem gefeiert. Wir saßen mit unseren Freundinnen zusammen, und er sagte, er wolle Noy heiraten, mit der er schon zweieinhalb Jahre zusammen war.« Jetzt sei seine Familie »zerstört«, so Sahar weiter. »Es gibt keine Worte, die erklären, wie wir uns fühlen. Wir schauen immer seinen Rucksack an und denken, vielleicht kommt er ja doch zurück.«
irrglauben Der junge Mann hat auch eine Nachricht an die Politiker: »Wacht endlich auf! Dieses Land lebt in dem Irrglauben, dass alles in Ordnung ist. Aber heute bin ich es, und morgen ist es der Bruder von jemand anderem.« Oder die Schwester. Wie in der Familie Lemkus. Die 26-jährige Dalia wurde ermordet, als sie auf dem Heimweg an einer Mitfahr-Station in Gusch Etzion stand. Ein palästinensischer Terrorist griff die Gruppe von Wartenden an, versuchte erst, Dalia zu überfahren, stieg dann aus seinem Wagen aus und stach ihr wieder und wieder mit einem Messer in den Hals.
Die junge Frau, die als Bewegungstherapeutin in einem Kindergarten arbeitete, starb noch am Ort des Geschehens. Zwei weitere Menschen wurden verletzt. Sicherheitsleute erschossen den Attentäter. Am Tag darauf zog der Trauerzug durch die kleine Siedlung Tekoa, in der Dalia zu Hause war. Ihre Eltern, die vor 30 Jahren aus Südafrika nach Israel eingewandert waren, schienen nicht fassen zu können, was geschehen war. Tränenüberströmt rief ihre Mutter immer wieder auf Englisch: »Goodbye, Dalia, goodbye, my baby.«
Sport Tage zuvor hatten arabische Demonstranten immer wieder Steine auf vorbeifahrende Autos und Busse geworfen, darunter auf der Autobahn zwischen Jerusalem und Tel Aviv. Der Pkw einer Frau wurde in der Nähe der jüdischen Siedlung Maale Schomron im Westjordanland frontal getroffen. Verletzt wurde sie nicht. Die Polizei erklärte die Sicherheitsstufe zur zweithöchsten im ganzen Land. Wegen der »angespannten Lage« wurden zudem verschiedene Sportereignisse zwischen Juden und Arabern – die eigentlich der Verständigung dienen sollen – vorerst abgesagt. Unter anderem das Fußballspiel zwischen Nazareth und Petach Tikwa sowie ein Match der Jugendbasketball-Liga
Auch Meir Baruch aus Holon wartet auf den Zug in Tel Aviv. »Wir wollen wirklich keine Auseinandersetzung mit den Arabern, die in unserem Land leben«, sagt er. »Aber sie zwingen uns diese Gewalt auf. Seit Wochen brennen jede Nacht die Barrikaden in Jerusalem, werden Juden auf offener Straße totgefahren oder erstochen.« Das müsse von der Polizei eingedämmt werden, notfalls mit Ausganssperren oder ähnlichem, schlägt der Mitfünfziger vor.
Er erinnert sich noch mit Schrecken an die zweite Intifada vor rund 14 Jahren: »Es war unerträglich, täglich, manchmal stündlich liefen Horrornachrichten im Radio. Ständig gab es Tote und Verletzte bei Anschlägen auf Busse und Autos. Einer meiner Freunde starb bei einem Attentat in Jerusalem. Wir haben kaum noch das Haus verlassen, hatten Angst, in einen Bus zu steigen. So darf es nicht mehr werden«, sagt Baruch. »Aber ganz ehrlich – die Angst fährt schon jetzt wieder mit.«