Es begann mit einer Meinungsverschiedenheit. Die ARD-Studioleiterin in Tel Aviv, Susanne Glas, erhielt eine kritische Reaktion auf eine ihrer Twitter-Meldungen von der politischen Analystin und Unternehmerin Jenny Havemann. Es folgte eine Diskussion, später das Kennenlernen der beiden und schließlich die Organisation des ersten israelisch-europäischen Mediengipfels »Startup Media Tel Aviv«.
Der fand vom 8. bis 10. September mit Dutzenden von Experten aus verschiedenen Bereichen statt. Wie können Journalisten Israel-Themen angemessen darstellen? Wie beeinflussen Antisemitismus, der Holocaust und die sozialen Medien die Berichterstattung? Von welchen Innovationen und Start-ups können Medienunternehmen profitieren, wenn es um Hassreden und Fake News geht?
initiative Fragen, über die die Fachleute aus den Bereichen Medien, Forschung, Religion und Politik sowie Vertreter von Start-ups aus Israel, Deutschland, Österreich und der Schweiz drei Tage lang ausführlich diskutierten. Die Gründerinnen des Mediengipfels Glas und Havemann wollen mit ihrer Initiative vor allem Journalisten mit Experten aus anderen Bereichen verknüpfen.
Wie beeinflussen Antisemitismus, der Holocaust und die sozialen Medien die Berichterstattung?
Der Mediengipfel wurde vom Auswärtigen Amt der Bundesrepublik, dem World Jewish Congress, der Bertelsmann Stiftung und dem Zukunftsfonds der Republik Österreich unterstützt.
Eigentlich sollte er in Tel Aviv mit Besuchern von überallher stattfinden, durch die Corona-Pandemie allerdings musste er online abgehalten werden. Dadurch jedoch war es einem Publikum in der ganzen Welt möglich, die Vorträge und Diskussionen am Bildschirm zu verfolgen.
BOTSCHAFTER Das Programm drehte sich hauptsächlich um die drei Themen: Medien, Holocaust und Generation Z – Zeit für neue Annäherungen; Wenn die Diskussion gehässig wird: Antisemitismus, Hassrede, Fake News sowie Medien und Innovation. Eröffnungsreden hielten unter anderem die deutsche Botschafterin in Tel Aviv, Susanne Wasum-Rainer, sowie ihre Kollegen aus Österreich, Hannah Liko, und der Schweiz, Jean Daniel Ruch.
Der Intendant des Bayerischen Rundfunks, Ulrich Wilhelm, begrüßte »das wichtige Forum«: Viele der Probleme, die untersucht werden, seien von großer Bedeutung über die Grenzen von Israel und Europa hinaus. »Die Polarisierung in der politischen Debatte, die besorgniserregende Zunahme von Hassrede und Desinformation und ein alarmierend wachsender Antisemitismus sind Themen, die den Journalismus herausfordern und denen wir uns stellen müssen.«
»Vergessen Sie die alten Denkmuster. Sie sind tot!«
Dan Meridor
Dan Meridor, israelischer Politiker und Präsident des Jerusalemer Presseklubs, hob hervor, dass »niemals in der Geschichte die Menschen einen derartig großen Zugang zu Information gehabt haben. Und das birgt Gefahren.« Dann rief er auf: »Vergessen Sie die alten Denkmuster. Sie sind tot! Wir leben in einer Zeit der Krise und müssen sehen, wie wir uns anpassen.«
DEMONSTRATION Bundesaußenminister Heiko Maas erzählte in seiner Rede von einem Foto, das er kürzlich sah: »Es zeigt einen Mann bei einer Demonstration in Berlin, der einen gelben Stern trägt. Einen gelben Stern, wie ihn die Juden zur Zeit des Nationalsozialismus in Deutschland tragen mussten. Statt des Worts ›Jude‹ war auf dem Stern der Schriftzug ›Ungeimpft‹ zu lesen. Das hat mich erschüttert. Diese zynische Aneignung der Schoa ist enorm gefährlich. Damit werden die Grenzen tolerierbarer Meinungsäußerungen bei Weitem überschritten.«
»Etwas zu verfälschen, kann auch bedeuten, es zu leugnen. Wir müssen wachsam hinsichtlich derartiger Phänomene sein. Sowohl aus ordnungspolitischer Perspektive als auch aus Sicht der Medien. Denn Medien schildern oder kommentieren nicht nur die Realität – sie gestalten sie auch«, so Maas weiter. Es liege in der Verantwortung der Politiker, angemessene Maßnahmen und Initiativen zu ergreifen, um die neuen Formen des Antisemitismus zu bekämpfen.
Dabei hob er die »International Holocaust Remembrance Alliance« (IHRA) hervor, die als globale Taskforce gegen die Holocaustleugnung und -verfälschung kämpft, und das deutsche Strafrecht, das im Hinblick auf Fälle von Holocaustleugnung verschärft wurde.
BUNDESTAG Auch die Präsidentin der Israelitischen Kultusgemeinde München und Oberbayern, Charlotte Knobloch, sprach zum Publikum: Der Zukunftsdiskurs sei so wichtig, denn es dürfe nicht erst dann über Antisemitismus und Hassrede gesprochen werden, wenn es zu spät ist. »Wer hätte vor zehn Jahren geglaubt, dass in 2020 eine offen rechtsradikale Partei im Bundestag sitzt? Dass Menschen bei Anschlägen auf Synagogen mitten in Deutschland getötet werden? Und dass die sozialen Medien zu einer Petrischale von Hass, Antisemitismus und Extremismus jeglicher Art werden würden?«
Es brauche eine mediale Strategie für das Gedenken in einer Zeit, in der es immer weniger Zeitzeugen gibt, forderte Knobloch. »Schon heute zählen die Leugnung, Relativierung oder Instrumentalisierung des Holocaust zu den wichtigsten Motiven rechtsextremer Propaganda.«
»In der Vergangenheit brauchte man entweder eine Fernsehstation oder eine Druckerei, um Menschenmassen zu erreichen. Das ist vorbei. Heute braucht es nur noch Social Media.«
Kai Diekmann
Am zweiten Tag lag der Fokus vor allem auf der Untersuchung der Auswirkungen von zunehmendem Antisemitismus und von Hassrede. Professorin Dina Porat an der Universität Tel Aviv untersuchte in einer weltweiten Internet-Auswertung, welchen Effekt die Corona-Pandemie auf die grassierende Judenfeindlichkeit hat. Anschließend stellte die Bertelsmann Stiftung eine bis dato nicht veröffentlichte Studie zur gegenseitigen Wahrnehmung von Europäern und Israelis vor, die in jedem Fall zum Nachdenken anregt.
VERANTWORTUNG Den letzten Tag bestimmte die Stadt Tel Aviv als »Start-up-Stadt innerhalb der Start-up-Nation« und ihre Vorreiterrolle bei der Innovation. Die Leiterin der Abteilung Wirtschaftsentwicklung bei Tel Aviv Global, Michal Michaeli, erläuterte: »Wir sprechen zwar oft über Cyber oder Künstliche Intelligenz und Verteidigung und Sicherheit. Doch Tel Aviv ist auch im Bereich Medien führend.« Und da habe die Stadt eine besondere Verantwortung, »um die Menschen mit Informationen zu erreichen und gleichsam Hassrede und Fake News zu bekämpfen«.
Der einstige Chefredakteur der »Bild«-Zeitung und Gründer von »Storymachine«, Kai Diekmann, stellte seine eindrucksvolle Einschätzung der heutigen Bedeutung von sozialen Medien vor. »In der Vergangenheit brauchte man entweder eine Fernsehstation oder eine Druckerei, um Menschenmassen zu erreichen. Das ist vorbei. Heute braucht es nur noch Social Media.« Die sozialen Netzwerke im Internet hätten »dem Journalismus die Seele geraubt«, ist Diekmann sicher. Zum Abschluss diskutierten junge Journalisten über die immense Macht der sozialen Medien und ob sie bereits »fünfte Macht im Staat« seien.
»Wer Fragen hat, der bleibt gesprächsbereit.«
Susanne Glas
»Startup Media Tel Aviv« wollte Impulse setzen und hat an drei Tagen jede Menge Anregungen gegeben, für Antworten gesorgt und auch einige neue Fragen aufgeworfen. Ganz im Sinne der Gründerinnen Susanne Glas und Jenny Havemann. »Denn wer Fragen hat, der bleibt gesprächsbereit«, meinen sie.
»Wir haben durch unsere Meinungsverschiedenheit gemerkt, dass wir Menschen zusammenbringen müssen«, fasste die ARD-Journalistin Glas nach den drei Tagen zusammen. »Und dabei sind wir heute noch immer nicht ein und derselben Meinung.« Das brauche man auch gar nicht zu sein: »Stattdessen sollten wir uns respektieren und weiter diskutieren. Im nächsten Jahr wieder zum Mediengipfel in Tel Aviv – dann hoffentlich persönlich«.
Die Aufzeichnungen der drei Tage können unter www.media-tlv.com eingesehen werden.