Wenn New York der Big Apple ist, ist sie die saftige Orange. Tel Aviv ist der Ort für Individualisten, Mutige und Kreative. Hinter den Fenstern und Türen der weißen Bauten tummeln sich junge Leute, deren Job es ist zu wissen, was gerade angesagt ist. Die Metropole am Mittelmeer ist ein Sammelbecken für Designer, Gestalter und Stylisten. Röcke kurz oder lang, Kleider weit oder eng – vor allem in Sachen Mode ist Tel Aviv anderen Städten meist schon eine Saison voraus. Israelische Mode hat jede Menge Einfallsreichtum und ist oft sogar schon für kleines Geld zu haben. In den vergangenen Wochen bekamen die israelischen Designer und einheimischen Ketten jedoch starke Konkurrenz aus dem Ausland: Mit H&M und Gap zogen zwei Modegiganten in die Einkaufszentren ein.
Azrieli-Center Langsam werden die Schlangen an den Kassen des schwedischen Modehauses mit den zwei roten Buchstaben etwas kürzer, doch noch immer schleppen die Kunden Tüten voller Hosen, T-Shirts und Accessoires aus dem zweiten Obergeschoss des Azrieli-Centers. Die Wartenden vor den Umkleidekabinen stehen in zwei Reihen um die Kleiderständer herum. »Es ist schon ein wenig verrückt, hier eine halbe Stunde auf die Kabine zu warten«, gibt Daniel Ben-Yosef zu, »aber ich will dieses Teil wirklich haben und bin glücklich, dass es H&M nun bei uns gibt«. Reichen die einheimischen Läden nicht aus? »Unsere Ketten sind gut, keine Frage, aber hier gibt es Klamotten, die es so in Israel bislang noch nicht gab, und das zum erschwinglichen Preis.«
Sheinkin Eine Viertelstunde mit dem Bus weiter gelangt man auf die belebte Sheinkin-Straße. Eine Boutique reiht sich an die nächste, daneben Cafés und Restaurants, die Menschen sitzen bei angenehmen 22 Grad auf der Straße und schlürfen ihren Kaffee Hafuch, die israelische Variante des Cappuccino. Das Publikum ist schön und hip. Man will sehen und gesehen werden. Auf der Sheinkin findet man teure Labels neben Secondhand-Läden und jungen Designern, die hier ihre erste Boutique eröffnet haben. Eine von ihnen ist Nataly A. Shevilly. In ihrem kleinen Laden an der Sheinkin 44 gibt es Oberteile, Kleider und Röcke für die weibliche Kundschaft allesamt in bunten Farben aus zarten Stoffen. Der höchste Preis, der auf einem der Schildchen steht, ist 350 Schekel, umgerechnet etwas über 70 Euro. Konkurrenz durch die großen Ketten fürchtet Shevilly nicht, da sie auf Qualität und Individualität setzt: »Von jedem Teil gibt es maximal ein oder zwei Exemplare, da kann man sicher sein, dass es nicht jeder trägt.« Ihre Kleidung lässt die junge Designerin, die mittlerweile drei Boutiquen ihr eigen nennt, ausschließlich in Israel von zwei Rentnerinnen nähen. »Unsere Stoffe sind außergewöhnlich, die Qualität ist hochwertig und die Schnitte passen jeder Frau, egal, welche Größe sie hat. Diese Vorteile sprechen für sich.«
Ein paar Häuser weiter auf derselben Straßenseite lädt die offene Tür von Naama Bezalel zum Hereinschauen ein. Ayelet Sharara steht hinter dem grün gepunkteten Tresen und berät Kundschaft. »Für unseren Laden sind H&M oder Gap keine wirkliche Gefahr«, weiß sie, denn die Designerin Naama Bezalel ist bereits so weit etabliert, dass sie einen Kundenstamm hat. Außerdem sind die Preise etwas höher, die Qualität ist auch besser. Bezalel wisse, wie man Mode für die mediterrane Frau kreiert, so Sharara. »Wir haben schmale Taillen und etwas ausladendere Hüften, ihre Kleidung schmeichelt dieser Figur sehr.« In dieser Saison gibt es in der Kollektion viele schwingende Röcke, duftige Blusen und immer wieder Tupfen. Die Verkäuferin und Stylistin geht aber auch ab und an bei H&M vorbei. »Wichtig ist der Mix. Wenn man einen Designerrock anhat und dazu ein Shirt von der Stange, sieht das toll aus. Trägt man aber alles im Einheitslook, ist das schrecklich fade.«
Mode Auch Omer Danon ist Fashionvictim. Sie hat ihre Leidenschaft zum Beruf gemacht und Modedesign studiert. Was ist so speziell an der israelischen Mode? »Unsere Mode ist frei und unkompliziert, anders als in den USA und Europa«, ist die 30-Jährige überzeugt. Zum einen hänge es mit dem Wetter zusammen, bei großer Hitze und Luftfeuchtigkeit fühle man sich besser in dünnen Stoffen. »Wir lieben Farben, je mehr, desto besser. Die Kombination aus besonderen Schnitten und bunten Stoffen macht die Mode hier außergewöhnlich«, so Danon. Obwohl sie selbst am liebsten in Jeans und T-Shirt herumläuft, ist sie sicher: »In Tel Aviv kann man alles tragen, niemand schaut schräg, wenn man sich modisch auslebt.« Mit H&M und Co. könne sie leben, meint aber schon, dass es Auswirkungen auf die Modewelt im Land haben werde. »Der Start für junge unbekannte Designer, die ihre Sachen noch zum kleinen Preis anbieten, könnte dadurch schon schwerer werden.«
Einzigartig Auf Mode aus den 50er-Jahren schwört Tirza Elmaliach. »Das war noch Handarbeit, da saß jeder Stich«, schwärmt sie. Besondere Schätze findet sie in Secondhand-Läden, in denen sie liebend gern stöbert. In die modernen Ketten kehrt sie eher selten ein. »Zwar meint man auf den ersten Blick, dass die neuen Läden mehr Vielfalt nach Israel bringen, und das ist gut, doch wenn man etwas tiefer blickt, ist es weniger Vielfalt.« Die Leute würden dadurch vergessen, einzigartig zu sein, und das sei sehr schade. »Wir sollten, statt alle in denselben Sachen herumzulaufen, unsere einheimischen Designer unterstützen, sie sind diejenigen, die für wirkliche Individualität sorgen.«