So viel Grün! Das ist das Erste, was den Reisenden auffällt, als Tourguide Adi Wagner hinter Caesarea scharf nach rechts einschwenkt. Die Touristen aus Deutschland lassen die Küstenebene, kilometerlange Sandstrände, das glitzernde Mittelmeer und antike römische Aquädukte hinter sich, während Adis Minivan sich die ersten kurvenreichen Ausläufer des Karmelgebirges nach Zichron Yaakov hinaufschlängelt.
Auf dem Weg Richtung Haifa, Akko und Naharija könne man zwar die schnellere Route Nr. 4 nehmen, meint Adi. Schöner sei aber der Umweg über die Route 70 durch das westliche Jesreel-Tal, die Ausläufer des Karmelgebirges und das Drusendorf Daliat Al-Karmel. Die vielen Weinberge, Eichenwälder, Kiefern und Zypressen würden ihn immer an die Toskana erinnern, sagt Adi. Oder an die Provence. »Aber wartet nur ab«, fügt er lachend hinzu, »weiter oben in Galiläa sieht es aus wie in der Schweiz.«
Das ist natürlich übertrieben. Doch Adis Begeisterung für die »grüne Lunge Israels« mit ihren idyllischen Ortschaften können die Touristen aus Deutschland durchaus verstehen. Denn anders als in der exotischen Mondlandschaft der Wüste erscheint hier entlang der Landstraße 70 vieles vertraut: die hügelige Landschaft, die sandfarbenen Steinhäuser mit den roten Ziegeldächern und Blumenrabatten.
alija Kein Wunder, immerhin ließ der französische Philanthrop Baron Edmond de Rothschild Zichron Yaakov 1882 als eine von fünf Siedlungen der ersten Alija, der ersten Einwanderungswelle nach Israel, nach europäischem Vorbild anlegen – samt Weinstöcken, die er dafür eigens aus Frankreich verschiffen ließ. Noch heute betreiben Israels größte Weinproduzenten »Carmel« und »Tishbi« hier ihre Hauptfilialen.
»1903 tagte hier die erste ›Knessia‹, eine frühe Vertretung des Jischuw, der jüdischen Bevölkerung in Palästina«, erzählt Adi seiner fünfköpfigen Reisegruppe, bevor er an Zichron Yaakovs Fußgängerzone Rechov Hameyasedim, der »Straße der Gründer«, vor »Aldos Eisdiele« hält und seine Schützlinge zu einem Spaziergang einlädt. Die provenzalisch anmutende Pinienallee mit ihren zweistöckigen Backsteinvillen, Cafés und Galerien mündet direkt in die Carmel-Weinkellerei, deren frisch abgefüllte Ernte die Besucher gleich an Ort und Stelle verkosten können.
Während Adi nach dem kurzen Zwischenstopp wieder zielsicher auf die Landstraße Nummer 70 einbiegt, unterhält er die Reisegruppe mit Anekdoten aus 70 Jahren Israel. »Die erste Telefonleitung im ganzen Land wurde übrigens genau hier verlegt: zwischen dem Carmel-Büro und den Weinkellern«, erzählt Adi. »Und nicht weniger als drei israelische Ministerpräsidenten haben in jungen Jahren auf dem Weingut gejobbt – Staatsgründer David Ben Gurion in der Produktion, Levi Eshkol in der Buchhaltung und Ehud Olmert als Teenager während eines Ferienjobs.«
Kurz hinter Zichron Yaakov deutet Adi auf ein orange-blau-weiß gestreiftes Schild. »Hier entlang geht es zum Israel National Trail, einem 1100 Kilometer langen Wanderweg einmal quer durchs Land«, sagt der Reiseleiter. Ob er selbst schon einmal die Strecke gewandert sei, will ein Teilnehmer wissen. Adi winkt ab, empfiehlt den Weg aber jedem, zumindest streckenweise, der Israels abwechslungsreiche Natur einmal aus einer anderen Perspektive erleben will. Gewissermaßen von innen heraus.
bio-gewürze »Israel inside« scheint ohnehin Adis Lieblingsmotto zu sein. Immer wieder ermuntert er seine Tourteilnehmer, auf Einheimische zuzugehen. »Israelis sind offen und kommunikativ, wenn ihr euch auf das Land einlasst, könnt ihr innerhalb kürzester Zeit jede Menge Leute mit interessanten Lebensgeschichten kennenlernen«, sagt Adi. So wie zum Beispiel Avi Zithershpieler. Der Schotterweg am Highway-70-Abzweig Beit Lechem Haglilit, den Adis Minivan entlangrumpelt, endet an dessen Gewürzfarm »Spicy Way«. Ihn säumen Granatapfelhaine, Pfirsichplantagen und Olivenbäume.
Früher lebten in den umliegenden Dörfern viele Templer, eine pietistische Gemeinschaft mit Ursprüngen in Süddeutschland. Nach dem Zweiten Weltkrieg mussten sie wegen ihrer Nazisympathie das Land verlassen. Später ließen sich Neueinwanderer in der kleinen Siedlung nieder, viele von ihnen hatten die Schoa überlebt, darunter auch Avi Zithershpielers Eltern, Juden aus Österreich und Polen.
Die Landschaft ist lieblich und grün, diesmal sieht es wirklich aus wie in der Toskana. Wenn da nicht die Düsenjets wären, die ab und zu die Stille durchbrechen. Die Nähe zum Kriegsland Syrien ist allgegenwärtig. Doch davon lässt sich Avi Zithershpieler nicht aus der Ruhe bringen. Er ist hier geboren und aufgewachsen.
Angefangen, erzählt er den Besuchern, hat alles mit einer Handvoll Minze. Vor 50 Jahren setzte er sie im Kräutergarten seiner Eltern.
familienplantagen Mehr als 70 Jahre später wachsen auf den Familienplantagen nahezu alle Gewürze, die in Israel gedeihen: Thymian, Ysop, Salbei, Sumach, Lavendel, Zitronengras, Steppenraute und Paprika. Mit seiner Firma »Spicy Way« hat der Gewürzbauer den elterlichen Hof so erfolgreich gemacht, dass Mitarbeiter regelmäßig große Besuchergruppen durch die Felder führen – so wie nun die von Adi Wagner. Die Bio-Gewürze und Kräuter verkauft er nicht nur in Israel, sondern mittlerweile auch in London, San Diego und Düsseldorf.
Während Zithershpieler den Gästen frisch aufgebrühten Guave-Mango-Tee einschenkt, drängen sich Kunden zwischen offenen Schalen und Körben, die randvoll gefüllt sind mit Tee, Nüssen und Würzmischungen für Kartoffeln, Omelett und Salat. In dem Besucherzentrum summt es wie in einem orientalischen Basar. Überall riecht es intensiv und aromatisch, mal steigt eine Prise Chili in die Nase, mal duftet es nach Minze.
An einer Bistrotheke dampft Mujaddara, ein Gericht aus Reis und Linsen. Daneben türmen sich tellergroße Halvablöcke mit Pekannüssen und Pistazien, die eine Mitarbeiterin gerade in dicke Scheiben schneidet. Bei so viel kulinarischer Auswahl hat Adi Mühe, seine kleine Reisegruppe zur Weiterfahrt zu bewegen. Doch vor ihnen entlang der Route 70 liegen weitere Highlights von »Israel inside«. Diese Straße sei ein typisches Beispiel dafür, was man abseits der Touristenwege entdecken kann, wenn man die ausgetretenen Pfade ab und an verlässt, legt Adi seinen Begleitern ans Herz.
dada-dorf Ein Hod, zum Beispiel. »Würden wir jetzt hier nach links abbiegen und einmal quer durchs Karmelgebirge fahren, kämen wir etwa 15 Kilometer südlich von Haifa in Israels Dada-Dorf«, erzählt Adi. Zwischen alten Mauern und subtropischen Pflanzen leben in der selbst organisierten Kommune seit 1953 ausschließlich Künstler. Das Konzept ist in Israel einzigartig. Es stammt von dem Dadaisten Marcel Janco, einem Einwanderer aus Rumänien.
Zu den bekanntesten Bewohnern zählen die Schauspielerin Gila Almagor, der Dichter Nathan Zach und die Tänzerin Gertrude Krauss. Auch die 91-jährige Berliner Bildhauerin Ursula Malbin, die als junge Frau vor den Nazis ins damalige Palästina floh und deren Skulpturen den Skulpturengarten Haifa schmücken, lebt hier.
Doch Ein Hod muss warten. Stattdessen lenkt Adi den Wagen querfeldein nach rechts. Nach etwa zehn Kilometern erreicht der Minibus den Moschaw Nahalal, Israels älteste ländliche Kooperative.
reißbrett Gegründet 1921, ist das Reißbrett-Dorf mitten im Jesreel-Tal der einzige Ort in Israel, der exakt ellipsenförmig um einen Ortskern herum gebaut wurde. Entworfen hat es der aus Deutschland stammende Architekt Richard Kauffmann. Auch Mosche Dayan lebte hier, der legendäre israelische Verteidigungsminister, wie auch der Schriftsteller Meir Shalev. »Nahalal ist eine Art Legende«, erläutert Adi. »Es ist der Prototyp eines Wirklichkeit gewordenen Futurismus – so wie die zionistische Idee«, meint er. Es gebe ein ähnliches Dorf weiter östlich am Fuße des Berges Gilboa, Kfar Yehezkiel. »Nur dass es sechs statt acht Ecken hat.«
Bei so viel Futurismus muss Adi zur Abwechslung mit einem kleinen historischen Exkurs gegensteuern. Schließlich hat hier jeder Stein eine eigene Geschichte. »Nicht weit von hier liegt Meggido – UNESCO-Weltkulturerbe«, sagt Adi stolz. Auf Hebräisch »Har Mageddon«, Berg von Meggido. »Na, kommt euch das bekannt vor?«, fragt der Tourguide und grinst.
In Meggido würden nicht weniger als 30 archäologische Schichten historische Epochen der Menschheitsgeschichte offenbaren, deren früheste Spuren ins vierte Jahrtausend vor unserer Zeit zurückreichen, erfährt die Gruppe. Es seien einzigartige Spuren der Zivilisation, darunter eine der ersten Kirchen überhaupt aus einer Zeit, als das Christentum noch verboten war. »Die Tora erwähnt Meggido an 18 verschiedenen Textstellen«, holt Adi noch weiter aus. »König David eroberte die Stadt, sein Sohn Salomon erweiterte sie zum wichtigsten Handelszentrum seines Nordreiches. Wegen seiner strategischen Bedeutung als Stützpunkt auf der Handelsroute zwischen dem Mittelmeer nach Persien eroberten immer wieder neue Herrscher Meggido. Und gläubige Christen verbinden den Ort symbolisch mit dem Tag des Jüngsten Gerichts – daher der Name Armageddon.«
anekdoten Die kurzweiligen Anekdoten des Reiseleiters begleiten die Tourteilnehmer auch, als sie das Karmelgebirge Richtung Norden passieren. Linkerhand blinkt die goldene Kuppel des Bahai-Tempels inmitten von Haifa, Israels drittgrößter Stadt. Auf einer Landzunge weiter nördlich der Bucht erahnt man die Festungsmauern von Akko, laut Adi »Israels orientalischste Stadt«.
»In Haifa beträgt der arabische Bevölkerungsanteil rund zehn Prozent, in manchen Stadtvierteln sogar zwei Drittel«, sagt Adi. Die meisten seien Christen, etwa vier Prozent Muslime. In den umliegenden Dörfern des Karmels leben Drusen, und das schon seit dem 17. Jahrhundert. Die drusische Religion entstand um das Jahr 1000 aus dem Islam, erfahren Adis Ausflügler. »Die Drusendörfer Daliat al-Karmel und Isfiya sind gerade am Wochenende einen Besuch wert, vor allem wegen ihrer Märkte und Restaurants mit traditioneller drusischer Küche«, empfiehlt Adi.
Mittlerweile haben sich die Reisenden Israels Nordgrenze genähert. Vor ihnen erstrecken sich die grün gesprenkelten Hügel Westgaliläas wie ein mosaikartiger Teppich. Noch ein paar Minuten dauert die Fahrt bis Rosch Hanikra; Adis Reisegruppe ist fast am Ziel. »In römischer Zeit war Galiläa die größte der drei bestehenden Provinzen Judäa, Samaria und Galiläa. Heute besteht die Region aus Obergaliläa, Untergaliläa und Westgaliläa«, unterbricht Adi die erwartungsvolle Stille. Es gebe kaum eine Religion, Kultur oder Epoche, die hier nicht ihre Spuren hinterlassen hat; Phönizier, Perser, Juden, Griechen, Römer, Christen, Araber, Osmanen, Drusen, Tscherkessen, Bahai – alle zog Galiläa an.
moschaw Adi parkt den Minibus vor einem lang gestreckten unscheinbaren Gebäude im Moschaw Betzet. Nebenan stapeln sich Strohballen. Traktoren rattern auf dem benachbarten Feld. Ein Hauch von Pioniergeist liegt in der Luft. Dass sich ausgerechnet hier ein Ausflugslokal mit Gourmetküche verbirgt, erstaunt Adis Gruppe. Wieder so eine Überraschung abseits der Touristenstrecken.
Von der weitläufigen Terrasse des »Cochinella« aus, dessen Küchenchef regionale Produkte mit französischer und italienischer Note kombiniert, sieht man wenige Kilometer entfernt hohe Berge; daneben ragen weiße Steilklippen ins Meer: Grotten, ausgehöhlt von Wind und Wasser – Rosch Hanikra, »Kopf der Felsenhöhle«. Es ist Israels nördlichster Zipfel am Mittelmeer. Dahinter verläuft die Grenze zum Libanon. In dem dazugehörigen Kibbuz soll eine Zeitlang der britische Schauspieler Sacha Baron Cohen gelebt haben.
»Früher gab es nur einen schmalen Karawanenweg zwischen dem Libanon, Syrien, Ägypten und Afrika«, erzählt Adi. Später sprengte die britische Armee Felsen für die Eisenbahnstrecke Kairo-Istanbul. Heute könne man mit ein bisschen Glück ein Naturschauspiel erleben, wenn Hunderte von frisch geschlüpften Schildkröten ihren Weg ins Meer suchen.
»Doch Schweiz, oder?«, scherzt Adi. »Mindestens Toskana oder Provence, nur israelischer«, versichern seine Reisebegleiter. Nach einem ausgiebigen Abendessen bei gegrillter Dorade, Bruscetta und Kaffeecreme-Mousse bringt Adi seine Gruppe am Ende des Ausflugs schließlich dorthin zurück, wo die Tour entlang der Route 70 begann: ans Mittelmeer.