Er kommt barfuß. Eran Smilansky ist so, wie man sich einen jungen israelischen Kibbuznik vorstellt: mit unauffälligem T-Shirt in Blau, Shorts und Stoppelbart. Der 28-Jährige spricht leise. Auch seine Körpersprache signalisiert Zurückhaltung. Er will kein Held sein. Aber der Landwirt aus dem Kibbuz Nir Oz ist genau das.
Er sitzt auf einem Stuhl im Hotel Yam Suf in Eilat. Der Saal ist zu einer Gedenkstätte geworden. Auf den Sofas lehnen Bilder der Entführten – 80 Männer, Frauen, Kinder und ein Baby. Dieser südlichste Zipfel Israels, direkt an der Grenze zu Ägypten, ist normalerweise eine Badehochburg für Touristen. Heute ist hier niemand zum Urlauben. Die Stadt ist ein Flüchtlingslager, fast alle Hotels voll belegt mit Vertriebenen aus dem eigenen Land.
Das Hotel ist Smilanskys derzeitiges Zuhause, denn sein eigenes wurde in Schutt und Asche gelegt: der Kibbuz Nir Oz am Gazastreifen. Einst eine blühende Gemeinde mit einem botanischen Garten, der von vielen für seine Schönheit bewundert wurde, ist er heute ein tragisches Symbol des Leids, das die mordenden Hamas-Terroristen mit ihren Massakern über die israelischen Gemeinden im Süden brachten. Ein Viertel der 450 Einwohner von Nir Oz sind tot oder nach Gaza verschleppt.
KRIEG Smilansky ist, wie die meisten Bewohner seines Kibbuzes, in den frühen Stunden des 7. Oktober in seinem Haus. Als die Sirenen durch den Morgen schrillen, denkt er sich nichts dabei und geht in den Sicherheitsraum. Kurz darauf hört er Schüsse aus automatischen Gewehren, Explosionen. »Es wurde immer lauter, wie im Krieg.«
Der junge Kibbuznik gehört zum zivilen Sicherheitsteam seiner Gemeinde, und er hat eine Waffe. Irgendwann wird ihm klar, dass sich Terroristen im Kibbuz befinden. »Aber ich war mir sicher, unsere Armee ist hier und bekämpft sie.« Als sich die arabischen Stimmen seinem Haus nähern, versteckt er sich im Schrank.
Nur Momente später reißen zwei Terroristen die Tür auf, sie tragen israelische Armeeuniformen. Der Überraschungseffekt rettet ihm das Leben. Smilansky schießt. Doch die verwundeten Terroristen schreien und ziehen die Aufmerksamkeit von anderen auf das Haus.
Eine Zelle von sechs Hamas-Männern nähert sich mit Granaten und Maschinengewehren. Aus seinem leicht geöffneten Küchenfenster erschießt der junge Israeli alle mit gezielten Schüssen. »Alles, was ich tat, war schießen, verstecken, schießen, verstecken. Ohne Pause.« Ob er sich gefragt habe, wo die IDF ist? Er antwortet knapp: »Jede einzelne Sekunde.« Er habe sich gefühlt, als wäre er in einem Film. »In einem, wo nur noch ich am Leben bin und alle anderen tot sind.« Während Eran Smilansky um sein Leben und das der anderen Bewohner von Nir Oz kämpft, beobachtet Eyal Barad das Geschehen im Kibbuz völlig geschockt auf seinem Mobiltelefon. Der 40-Jährige ist Ingenieur und Vater von drei kleinen Kindern. Über die Kamera an der Eingangstür, die mit seinem Handy verbunden ist, sieht er Terroristen vorbeigehen.
Doch nicht nur die, auch palästinensische Zivilisten, darunter Teenager und eine junge Frau auf einem Fahrrad. Barad muss dabei zusehen, wie Terroristen ein Mädchen aus dem Fenster in einem Haus gegenüber ziehen und auf ein Motorrad setzen. »Sie stülpten ihr einen Sack über Kopf und Oberkörper und fuhren mit ihr weg.«
»Was sollte ich machen, ohne Waffe, mit drei kleinen Kindern und meiner Frau im Schutzraum?«, fragt Barad hilflos. »Hätte ich die Tür geöffnet, wären wir alle tot.« Während die Familie verzweifelt auf die Armee wartet, bekommt er Nachricht von seiner Schwiegermutter, dass ihr Mann angeschossen ist. »Ein paar Stunden später starb er in ihren Armen.«
Währenddessen muss er seiner sechsjährigen Tochter, die autistisch ist, den Mund zuhalten. »Sie verstand nicht, was los ist, und konnte nicht still sein«, erzählt Barad mit leiser Stimme. »Ich kann nicht beschreiben, wie grauenvoll es war.« Dass seine Familie und er überlebten, sei nur eines gewesen: »pures Glück«.
FEUER Währenddessen kommen bei Eran Smilansky immer mehr Nachrichten von Nachbarn in brennenden Häusern an, die um Hilfe flehen.
Es war die perfide Taktik der Terroristen, Häuser, deren Sicherheitsräume sie nicht öffnen konnten, anzuzünden. So verbrannten die Menschen bei lebendigem Leib oder wurden ermordet, als sie ins Freie liefen.
Sechs Hamas-Terroristen nähern sich mit Granaten und Gewehren. Der junge Israeli schießt.
Der junge Israeli zögert nicht lange und rennt von einem Haus zum nächsten. »Irgendwo, irgendwann treffe ich auf meinen Freund Benny Avital. Wir wickeln uns nasse Handtücher um den Kopf, um uns vor dem beißenden Rauch und dem Feuer zu schützen.« Smilansky erinnert sich: »Manche wollten die Tür nicht öffnen. Ich musste sie beschwören: ›Ich bin es doch, Eran, der Sohn von Diana. Ich kenne deine Kinder …‹ Bei einigen dauerte es eine Viertelstunde, bis sie aufmachten.« Wie viele Menschen er auf diese Weise vor dem sicheren Tod rettete, weiß er gar nicht genau. »Vielleicht 50.«
Irgendwann seien endlich die ersten Reservisten angekommen. »Man konnte sehen, sie waren in größter Eile losgefahren, trugen teils unvollständige Uniformen und Turnschuhe.« Gemeinsam mit ihnen brachten Eran und Benny die Überlebenden an sicherere Orte. Auf Terroristen traf die Armee nicht mehr. Nur noch Tote, sagt Eran leise.
Erst auf die Frage hin, ob er sich verlassen gefühlt habe, erhebt er seine Stimme ein wenig: »Natürlich!« Er verschränkt seine Arme wie zum Schutz vor seinem Körper. »Ganz und gar. Ich war sicher, dass ich sterbe. Uns wurde ein Messer in den Rücken gerammt, von IDF und Regierung, die uns beschützen sollten. Und die Informationen, die Hamas über unsere Gemeinde hatte, kamen zum Teil von den Zivilisten in Gaza, das weiß ich. Jahrelang habe ich mit Hunderten von ihnen zusammengearbeitet. Wir haben gemeinsam gegessen, geredet, gelacht. Mein Vertrauen in sie alle – Armee, Regierung, Palästinenser – ist völlig zerstört.«