Er stand immer in Opposition zu allen Mächtigen in Israel, seit der Staatsgründung. Und er hat es genossen: der israelische Journalist Uri Avnery. 40 Jahre lang war der Autodidakt – politisch anfangs sehr rechts und dann radikal links – Herausgeber des skandalträchtigen Magazins »Haolam Hazeh«. Als Ministerpräsident Eshkol das Blatt zu ruinieren versuchte, wurde der westfälische Trotzkopf Avnery zum Politiker: Aus Protest gründete er eine Partei, deren wichtigste Parole lautete: »Freiheit für ›Haolam Hazeh‹«.
1965 zog er als Parlamentarier in die Knesset ein. Zehn Jahre lang zementierte er seinen Ruf als Enfant terrible der politischen Szene Israels. Er hielt 1000 Reden, von denen 100 die Anerkennung eines palästinensischen Staates forderten, seinerzeit ein absoluter Tabubruch.
Emigration Der am 13. September 1923 im westfälischen Beckum als Helmut Ostermann Geborene wächst in einem jüdisch assimilierten Elternhaus auf. In der 5. Klasse seines Gymnasiums in Hannover hat er ein einschneidendes Erlebnis: Die 1000 Schüler versammeln sich in der Aula, um deutsche Waffensiege zu feiern. Er ist der einzige Jude, sein Sitznachbar ist ein gewisser Rudolf Augstein. »Ich sang nicht mit und hob auch nicht die Hand zum Nazigruß.« Als sein Vater wenig später antisemitisch bedroht wird, flieht die Familie über Frankreich nach Palästina. Im November 1933 kommt sie dort an.
Uri – diesen hebräischen Namen wird er sich mit 18 zulegen – ist begeistert vom neuen Leben. Die Farben, die Gerüche, die vielfältigen Kulturen begeistern ihn. Nach einem Kurzaufenthalt im Moschaw Nahalal geht er zu seinen Eltern nach Tel Aviv, besucht noch einmal kurz eine Schule.
Mit 15 wird er im arabisch geprägten Jaffa Sekretär bei einem Rechtsanwalt. In diesem Zeitraum schließt er sich auch der Irgun an. 1946 wird er Mitglied in einer kleinen, sehr linken Gruppe, kurz vor der Staatsgründung kämpft er bei der Hagana. Ende 1948 wird er schwer verletzt, vier aus Marokko eingewanderte Soldaten retten ihm das Leben.
Glossen Avnery begeistert sich früh für das Schreiben. Noch während des Unabhängigkeitskrieges schreibt er Glossen, die in Tageszeitungen erscheinen. Sein Vorbild ist Erich Maria Remarque. 1949 erscheinen seine Beiträge in dem Buch In den Feldern der Philister. Es wird ein Bestseller. Als er merkt, dass sich seine Kameraden für den Krieg begeistern, schreibt er ein Jahr danach das Buch Die andere Seite der Münze. 1995 erinnert er sich: »Plötzlich war ich der Liebling der Gesellschaft. Dann schrieb ich noch ein zweites Buch. Dieses war ein nationaler Skandal ohnegleichen. Ich schrieb darin über Kriegsverbrechen. Das Buch wurde dann boykottiert.«
Bereits früh fordert Avnery in Aufsätzen eine Aussöhnung mit den Arabern. Gustav Schocken, Verleger und Chefredakteur von »Haaretz«, wird auf den 25-jährigen Autodidakten aufmerksam. Er könne für Haaretz regelmäßig Leitartikel verfassen. Nach einem Jahr hört Avnery auf. Er ist zu inhaltlichen Konzessionen nicht bereit.
1950 übernimmt er die farblose Wochenzeitschrift Haolam Hazeh. Nun beginnt sein steiler Aufstieg als skandalträchtiger, investigativer Journalist. 40 Jahre leitet er das Blatt, entwickelt im jungen Staat eine ganz neue Form des kritischen Journalismus. »Es ist, als wenn die ›Bild‹-Zeitung und die ›Zeit‹ eine gemeinsame Zeitung wären, und noch extremer«, erzählt er seinen deutschen Zuhörern. »Es gab sehr viele Witze darüber, dass viele Käufer – auch Regierungsbeamte – sie quasi in anderen Zeitungen versteckten. Offiziere und Beamte lasen sie mit großer Begeisterung, offiziell aber war sie absolut verpönt.« Sein Blatt setzt sich für einen liberalen Staat ein. Es deckt immer wieder Skandale und Korruption auf.
Parteilichkeit 1969 erscheint sein erstes deutschsprachiges Buch, der Titel ist Provokation: Israel ohne Zionisten. An seiner Parteilichkeit lässt er keinen Zweifel: »Ich gebe nicht vor, objektiv zu sein, was Israel angeht. Ich glaube, niemand ist es oder könnte es sein. Ich möchte aufzeichnen, wie zwei große historische Bewegungen, beide von hohen Idealen beflügelt, auf den Schlachtfeldern Palästinas zusammenprallten.«
Am Ende des 1967er Sechstagekrieges appelliert er an Ministerpräsident Eshkol, den unterlegenen Palästinensern die Gründung eines eigenen Staates anzubieten. 1975 gründet er gemeinsam mit General Matti Peled eine israelisch-palästinensische Gruppe. Dann beginnt er, unter strikter Geheimhaltung, Gespräche mit einflussreichen palästinensischen Gesprächspartnern: mit Said Hamami und Issam Sartawi.
Wenige Jahre zuvor war Sartawi noch an Terroranschlägen in Deutschland beteiligt. Nun treffen sie sich in europäischen Hotels. Avnery informiert Yitzhak Rabin darüber. In Mein Freund, der Feind hat Avnery diese Gespräche literarisch beschrieben. Sie hätten dazu beigetragen, die wechselseitigen »diabolischen Bilder zu erschüttern«. Und doch endet es tödlich: 1978 wird Hamami, 1983 Sartawi von palästinensischen Extremisten ermordet.
Arafat 1993 folgt die Gründung der radikalen »Friedensgruppe« Gush Shalom. International spektakulär wirkte schon Avnerys Besuch 1982 bei Arafat im seinerzeit belagerten Beirut. Seitdem unterstützte und idealisierte er Arafat in einer Weise, die zumindest verwunderlich war. Es folgen internationale Auszeichnungen, 2004 erhält Avnery den Sokolow-Preis.
Seine wöchentliche Kolumne erschien in all den Jahrzehnten jeden Freitag zuverlässig wie ein Uhrwerk. Anfang August erlitt er einen Schlaganfall und lag anschließend im Koma, aus dem er nicht mehr erwachte. Am 20. August ist Uri Avnery gestorben, wenige Wochen vor seinem 95. Geburtstag.