7. Oktober

Der längste und furchtbarste Tag

Palästinenser aus dem Gazastreifen stürmten am 7. Oktober 2023 durch die Öffnungen des zerstörten Grenzzauns nach Israel. Foto: picture alliance / AA

Ende November in Berlin, gestern ist der erste Schnee gefallen. In der Straßenbahn von der Osloer Straße im Wedding hinüber in den Prenzlauer Berg – und schon auf der Fahrt die seltsame Frage, ob Adi wohl mit ihrem Sohn zurzeit Hebräisch sprechen kann, in der Öffentlichkeit. (…)

Fast scheint es, als könnte erst jetzt, aus der Distanz von einigen Wochen, annähernd beschrieben werden, was dieser schier endlose Tag auch den Lebenden und Überlebenden angetan hat. (Unter den Opfern und Geiseln sind auch Adis Verwandte, überdies Freunde und Bekannte, Nachbarn und ehemalige Lehrerinnen.)

Aber geht denn so etwas – die Ermordeten, Pars pro Toto von über 1200 – in Klammern? Doch wie von ihnen erzählen, von ihrem Leben und ihren Biografien, ohne in die Nähe einer unsäglichen Anmaßung zu geraten, und das auch noch aus räumlicher Distanz? Dazu all die Geiseln, darunter Kinder und Alte, die sich genau jetzt, während wir hier in Adis und Ingos Wohnung im Prenzlauer Berg sitzen, noch immer in der Gewalt der Hamas befinden, unter Tage in den Tunneln oder vielleicht als menschliche Schutzschilde in Krankenhäusern und Schulen. Welche Anmaßung, in ihrem Namen zu sprechen. Totenklagen zu wagen und Imaginationen ihres Schicksals. Ein unangemessenes Schönschreiben, das sich vor allem an sich selbst berauschen würde.

Das Danach ebenso wie das Davor umkreisen

Stattdessen der Versuch – und mehr als ein Versuch kann es ja gar nicht sein –, das Danach ebenso wie das Davor zu umkreisen, in den Gesprächen mit den Lebenden. Und auch diese Lebenden sind nicht »repräsentativ«, sind nicht Objekt irgendeiner »Langzeitstudie«. Sind Freunde und Freundinnen, und sie eröffnen diesen Raum der Erinnerung und des Nachdenkens.

»Inzwischen kann ich es zumindest für mich einigermaßen einordnen«, sagt Adi. »Nicht das Geschehen auf dem Festival, auf den Straßen, in den Kibbuzim und danach in den Wohnungen, in den Schlaf- und Wohnzimmern, in den Küchen und den Safe Rooms und Shelters, die ja dafür gebaut worden waren, um bei Raketenangriffen Schutz zu bieten, aber doch nicht für … die größte Abschlachtung nach dem Holocaust. Ich werde dir von meinem Cousin erzählen, der danach in der Shura Base die Leichensäcke öffnen musste und deren ›Inhalt‹ zu ordnen hatte, ich …«

Adi schaut auf den Teller, rührt selbst ihr Gebäck nicht an. Dreht den Kopf zur Seite, doch die Sonnenstrahlen, vom Fenster und im Spiegel, sind weitergewandert und nicht mehr auf der Höhe unserer Brillengläser.

»Gut … lass es mich versuchen. Samstagmorgen, Ingo und Daniel schlafen noch, aber mein Handy ist an, und ich höre das Summen der hereinkommenden Whats-App-Nachrichten. So what, denke ich im Halbschlaf. Meine ganze Family ist in einer WhatsApp-Gruppe, da gibt’s dauernd was zu teilen und mitzuteilen; Kommentare, Grüße, Kochrezepte, all that stuff. Aber morgens um 6.28 Uhr, am Schabbat?«

Morgens um 6.28 Uhr am Schabbat

(Aber morgens um 6.28 Uhr, am Schabbat? Exakt die gleiche Frage, die gleiche Erinnerung bei den Freunden in Israel, als wir uns das erste Mal nach jenem Tag von Angesicht zu Angesicht sehen, via Zoom und per Skype. Als wäre die größtmögliche Präzision – Ort, Uhrzeit, Stand der Information, gegenwärtige Situation der Sender und Empfänger – der einzige Halt, die Möglichkeit eines Halts, um sich nicht einquirlen zu lassen vom Mahlstrom des Schreckens, der in der Panik um das Leben der Verschleppten fortdauert. Einer der Freunde, Fingerknöchel an den Augenrändern, Grimasse eines Lächelns: »Jetzt lassen sie uns sogar mit den Amerikanern und Europäern gleichziehen: ›Wo warst du, als die Nachricht von Kennedys Ermordung kam? Und wo bei der Mondlandung, dem Mauerfall und 9/11?‹ Du wirst sehen, noch nach Jahren und Jahrzehnten …«)

Wie von ihnen erzählen, ohne in die Nähe einer unsäglichen Anmaßung zu geraten?

Adi spricht vom bislang längsten und furchtbarsten Tag ihres Lebens. Tippt immer wieder sacht mit den Fingerspitzen auf die bunt gemusterte Tischdecke, sieht mich an und schaut weg, ihre Stimme bleibt deutlich und klar. Das Summen des Handys, das von da an nicht mehr aufhörte. Der mit jeder Minute mehr und jedes Mal grauenerregender zur Gewissheit werdende Verdacht, dass das hier kein neues, aber einzuordnendes Kapitel von Ha-Matzav, der gegenwärtigen Lage, war.

Dass es mehr als die üblichen Raketenangriffe gab, nämlich eine Invasion zu Land und in der Luft – mit Jeeps, Motorrädern und Paragleitern. Und dass nicht nur geschossen, sondern erschossen wurde, erdolcht, erwürgt und verbrannt. Kein bloßer »Angriff«, sondern ein mit Google Maps, Granatwerfern, Maschinenpistolen und Hackbeilen orchestriertes Mordfest, wie es dies seit den Pogromen und der Schoa nicht mehr gegeben hatte.

Pick-ups mit bewaffneten Hamas-Terroristen

Als die Pick-ups mit den bewaffneten Hamas-Terroristen in der Straße vor Adis Elternhaus auftauchten. Als die Eltern zur gleichen Zeit die Nachrichten aus den Kibbuzim erhielten und an Adi weiterleiteten. Als verwackelte Videos gesendet wurden, die Münder ganz nah am Display und flüsternd, während im Hintergrund Allahu-Akbar-Rufe zu hören waren und Schreie und Schüsse auf dem Festivalgelände und in den nur geringen Schutz gebenden Gebüschen und Pinienhainen, auf den Straßen und in den Häusern.

Schreie und Schüsse und immer wieder die verzweifelte Frage, wo denn die Armee bleibe, doch Garant dafür, dass es seit dem Holocaust eine sichere Heimstatt gab für Juden, also doch auch für die Kibbuzniks und die jungen Leute auf dem Supernova-Festival, für die Bewohner von Sderot. Halten wir durch, die Einheiten sind schon unterwegs, nur Minuten kann es noch dauern, sie sind auf dem Weg, sie werden bei uns sein.

»Sechs Stunden sind es geworden. Inzwischen waren über 1000 Israelis, Zivilisten und völlig überraschte Sicherheitskräfte abgeschlachtet, und viele der Frauen, ehe man ihnen in den Kopf schoss, dazu auch noch … Aber das wissen wir ja alles.«

Noch im Schockzustand

Noch im Schockzustand hatte dann, im Ausland eher unbemerkt, in Israel sofort die Debatte begonnen: Weshalb hatte es so lange gedauert, bis genügend Armeekräfte eingetroffen waren, um das Festivalgelände, um Sderot und die Kibbuzim – zumindest das, was von ihnen übrig geblieben war – freizukämpfen und die Überlebenden zu evakuieren? Vielleicht auch deshalb, weil die ultrarechte Regierung andere Prioritäten hatte und zahlreiche Armeeeinheiten im besetzten Westjordanland gebunden waren, um dort die religiösen Siedler zu schützen, die gerade ihr Simchat-Tora-Fest feierten?

Nicht ihr Fest, widersprachen andere, sondern unseres: Schließlich wird beim »Fest der Torafreude« an den Moment erinnert, in dem Moses auf dem Berg Sinai die Gesetzestafeln erhalten hatte – auch in säkularer Interpretation ein Zivilisationssprung sondergleichen, da hier ein Gott vom enigmatisch Dräuenden zu einer Ins­tanz geworden war, die Verpflichtungen einging und Regeln formulierte.

»Na wunderbar, und seit Jahren haben wir mit König Bibi einen Premier, der sich einen Dreck um Regeln und Gesetze schert, dem die Kontrolle über die Justiz und die Entmachtung des Obersten Gerichts wichtiger sind als der Schutz der Bevölkerung, und der deshalb sogar Faschisten und komplett Irre in seine Koalition aufnimmt, um an der Macht und immun zu bleiben.«

So ging es im Land hin und her – unversöhnt und in wütender Vitalität zugleich, nach Ursachen forschend und doch hilflos, während die Zahl der geborgenen Toten oder ihrer verkohlten Überreste stieg und stieg. Immer mehr Menschen im Land erfuhren, dass sie ihre Liebsten auf immer verloren hatten und unzählige andere wahnsinnig vor Angst wurden um die in den Gazastreifen Verschleppten, über 240 Menschen, für die sie dann sofort demonstrierend auf die Straßen gingen. Bring them home – now.

Marko Martin: »Und es geschieht jetzt. Jüdisches Leben nach dem 7. Oktober«. Klett-Cotta, Stuttgart 2024, 224 S., 17,99 €; Auszüge mit freundlicher Genehmigung des Verlags

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