Frau Adar, im Rahmen des Geiselabkommens zwischen Israel und der Hamas, das mit dem Ende der ersten Phase nun in ein kritisches Stadium erreicht, erleben wir die Freilassung von Geiseln, die sich seit 500 Tagen und mehr in Gefangenschaft befanden. Was machen diese Bilder wie die der Freigelassenen Sasha Troufanov, Sagui Dekel-Chen und Yair Horn mit Ihnen?
Es ist sehr bewegend, sie nach Hause kommen zu sehen. Gleichzeitig spüre ich den Schmerz über den Tod meines Sohnes, der nicht mehr lebendig zurückkehren wird. Der Schmerz darüber, dass sie ein Jahr lang dort festgehalten wurden. Und wenn wir die Freigelassenen sehen, wird uns bewusst, was für eine schlimme Zeit sie dort durchmachen mussten. Ihre Gesichter erzählen auch die Geschichte des Kibbuz Nir Oz, woher die drei stammten – die Zerstörung, die Ermordungen, die Entführungen. Was dort geschehen ist, darf nicht vergessen werden.
Ihr Sohn Tamir Adar wurde bei der Verteidigung von Nir Oz, an der er sich beteiligte, ermordet. Tamir widmete sein Leben dieser Gemeinschaft. Was zeichnet diesen Ort aus, der Ihrem Sohn so wichtig war?
Nir Oz war eine landwirtschaftlich geprägte Gemeinschaft. Viele der Menschen dort haben ihr Leben lang für den Frieden gearbeitet. Viele waren politisch links, wie Oded Lifshitz, der kranke Palästinenser freiwillig in Krankenhäuser fuhr und am 7. Oktober ebenfalls gekidnappt wurde. Die Menschen in Nir Oz wollten friedlich mit ihren Nachbarn in Gaza leben. Vor dem 7. Oktober arbeiteten viele Palästinenser in Nir Oz. Ein weiterer Bewohner, der ermordet wurde, pflegte Kontakte zu seinen palästinensischen Kollegen in Gaza und kümmerte sich um die Menschen.
Der Angriff hat unser grundlegendes Verständnis von Zusammenleben erschüttert. Es war nicht nur ein Massaker durch Terroristen – auch Zivilisten aus Gaza folgten der Hamas, drangen in unsere Häuser ein, plünderten, zerstörten und lachten dabei. Meine Kinder hörten aus ihrem Schutzraum, wie Fremde unser Haus verwüsteten und sich amüsierten. Wir haben früher zwischen Hamas und der Zivilbevölkerung unterschieden, aber nach dem 7. Oktober lässt sich diese Grenze nicht mehr so einfach ziehen. Auch Zivilisten nahmen an den Massakern teil. Das ist ein Schmerz, der sich tief in uns eingebrannt hat.
Im Rahmen der Münchner Sicherheitskonferenz waren Sie Teil einer israelischen Delegation, die auf das Schicksal der verbliebenen Geiseln in Gaza aufmerksam machen wollte. Wie war Ihr Empfang hier in Deutschland? Fühlen Sie sich mit Ihrem Anliegen gehört?
Die deutsche Bevölkerung ist sehr unterstützend. Mein Sohn war deutscher Staatsbürger, und die Regierungsvertreter waren stets hilfreich und standen uns beratend zur Seite. Wir fühlen die Wärme und Unterstützung, die uns entgegengebracht wird. Besonders weil mein Sohn auch deutscher Staatsbürger war, spüren wir diese Solidarität.
Ihre Delegation hat auch das Anliegen, gezielten politischen Druck auszuüben. Konkret gefragt: Was können deutsche Politiker tun? Und wo müssten sie sich deutlicher engagieren?
Im persönlichen Gespräch sind deutsche Politiker sehr unterstützend. Das spüre ich bei jedem Treffen. Aber auf der globalen Ebene müssen alle Länder sicherstellen, dass keine Gelder mehr an Organisationen fließen, die Terror unterstützen – beispielsweise an die UNRWA, wo Mitarbeiter der Hamas angehören. Ich bin überzeugt, dass der Kampf gegen den Terror global geführt werden muss. Die Finanzierungsströme an solche Organisationen müssen gestoppt werden. Deutschland sollte sich selbst überprüfen. Ich glaube nicht, dass diese Gelder bewusst zur Terrorunterstützung fließen, sondern dass sie eigentlich für zivile Zwecke gedacht sind. Doch indirekt finanzieren sie den Terror, wie etwa im Fall der UNRWA.
Ein weiteres wichtiges Thema ist der Druck auf Katar. Deutschland hat Einfluss auf Katar, unterhält diplomatische Beziehungen und ist ein wichtiger wirtschaftlicher Partner.
Warum ist insbesondere der Druck auf Katar so wichtig?
Mein Sohn ist tot, und seine Leiche wird in Gaza festgehalten. Der Druck auf Katar ist entscheidend, damit auch die Leichname der Gefallenen zurückgebracht werden und eine würdige Beerdigung erhalten. Das betrifft nicht nur meinen Sohn, sondern auch andere deutsche Staatsbürger, deren Familien dasselbe Anliegen haben. Es gibt eine UN-Resolution, Nummer 2474, die genau das fordert. Deutschland muss seinen Einfluss nutzen, um Katar zur Umsetzung dieser Resolution zu bewegen. Es muss jetzt geschehen, als geschlossener Akt und nicht schrittweise. Völkerrechtlich gilt: Wer jemanden unterstützt, der gegen das Völkerrecht handelt, macht sich selbst schuldig. Deutschland muss helfen, Druck aufzubauen, damit nicht weiter gegen das Völkerrecht verstoßen wird.
Wer die Entstehung des »Hostages and Missing Families Forum« miterlebt hat, weiß welche enge Verbindung zwischen den Familien der Vermissten entstanden ist. Hält dieser enge Zusammenhalt unter den Familien weiterhin an?
Ja, absolut. Die Familien der freigelassenen Geiseln sagen oft, dass sie sich weiter für die Freilassung aller einsetzen wollen. Der gemeinsame Kampf vereint uns – bis die letzte Geisel freigelassen wird. Wir bleiben zusammen, bis niemand mehr in Gefangenschaft ist.
Die erste Phase des Geiselabkommens kommt nun an ihr Ende. Die Bilder der zuletzt auch Freigelassenen Eli Sharabi, Or Levy und Ohad Ben Ami haben, wegen ihrer schlechten körperlichen Verfassung die israelische Öffentlichkeit erschüttert. Welche Konsequenz haben aus Ihrer Sicht diese Aufnahmen?
Die schockierenden Bilder zeigen, wer die Hamas wirklich ist. Auch wenn jemand auf den ersten Blick gesund erscheint, wissen wir nicht, was ihnen widerfahren ist – insbesondere psychologisch. Die Hamas versucht ihre Brutalität zu vertuschen. Geiseln bekamen kurz vor der Freilassung mehr Essen, damit sie nicht so abgemagert wirken. Der Islamische Dschihad veröffentlichte sogar ein Propagandavideo, in dem eine Geisel ans Meer gefahren wurde, um den Eindruck zu erwecken, er sei gut behandelt worden. Doch die Wahrheit ist eine andere. Die Unterernährung und die gesundheitlichen Folgen werden sich erst mit der Zeit zeigen.
Wer war Tamir, was möchten Sie, dass die Welt über ihn weiß?
Es ist ein Verlust für die Welt, dass Tamir nicht mehr unter uns ist. Er war ein warmherziger, lebensfroher Mensch. Er liebte das einfache Leben, die Gemeinschaft. Er arbeitete mit Leidenschaft in der Landwirtschaft des Kibbuz. Sein Motto war: Das Leben kann einfach sein, wenn man es sich nicht selbst kompliziert macht. Er hatte einen großartigen Humor und eine emotionale Intelligenz, die es zu einer Freude machte, mit ihm zu sprechen. Er war ein friedliebender Mensch.
Eine Geschichte möchte ich noch erzählen: Mein Bruder war in einer nachrichtendienstlichen Abteilung im Gefängnis tätig. Ein befreundeter Zahnarzt im Nafha-Gefängnis war beteiligt, als bei Yahya Sinwar, dem Hamas-Führer, ein Hirntumor diagnostiziert wurde. Er erkannte Abszesse und rettete damit Sinwars Leben. Doch später war es Sinwar, der den Angriff vom 7. Oktober plante. Mein Bruder half, sein Leben zu retten – und Sinwar ließ meinen Sohn töten. Das zeigt mehr als alles andere den fundamentalen Unterschied der Werte zwischen beiden Seiten.
Das Gespräch führte Chris Schinke.