Im August 1931 bekam Arieh Sharon Post aus Dessau: eine Einladung vom Direktor des Bauhauses mit der Bitte, er möge doch nach Deutschland kommen. Der Absender war kein Geringerer als Ludwig Mies van der Rohe, von 1930 bis 1933 Direktor des Bauhauses, bis auch er nach dem Berufsverbot 1938 nach Chicago emigrierte. Wer war jener Arieh Sharon, der so begehrt war, dass man ihn von Jerusalem nach Dessau holen wollte?
Galizien Sharon, der ursprünglich Ludwig Kurzmann hieß, wurde am 28. Mai 1900 in Galizien geboren. Über seine frühen Jahre weiß man wenig, nur so viel: Er hatte in Brünn studiert, gehörte einer zionistischen Jugendbewegung an und war fest entschlossen, mit Gleichgesinnten nach Palästina zu ziehen, um dort das Land aufzubauen.
Sharon leitete damals die Gruppe der Jungen. Eine Person muss ihm besonders aufgefallen sein; es war jene, die die Mädchengruppe leitete. Beide wurden im damaligen Palästina ein Paar, ab hier schweigt allerdings die Geschichte des jungen Ludwig Kurzmann. Von einem Schicksalsschlag ist die Rede, vom Leben im Kibbuz und der Tatsache, dass er eines Tages auf einen Artikel über das neu gegründete Bauhaus aufmerksam wurde – jene Schule, die ihn sofort faszinierte und in die ihn sein Kibbuz schickte.
Arieh Sharon gehört zu den insgesamt nur vier Studenten, die aus dem damaligen Mandatsgebiet Palästina ans Bauhaus kamen.
Arieh Sharon gehört zu den insgesamt nur vier Studenten, die aus Palästina ans Bauhaus kamen. »Er war der erste«, erzählt Eran Neuman, Architekturprofessor an der Universität Tel Aviv.
Weimar Viel Persönliches ist über diese Zeit nicht dokumentiert. Überliefert wurde nur so viel: Der jüdische Student verliebte sich in die katholische Gunta Stölzl, die auch ans Bauhaus (bereits 1919 nach Weimar) gekommen war und aus Bayern stammte – eine junge Frau, geprägt von den verstörenden Bildern der Kriegslazarette. Sie hatte als Krankenschwester im Ersten Weltkrieg Verwundete gepflegt. Ihr Leben später am Bauhaus sollte ein Leben aus und mit viel Farbe werden: Sie webte Teppiche und Decken, vorzugsweise in Rot- und Orangetönen.
Stölzl fertigte unter anderem Stuhlbezüge für Marcel Breuer, einen deutsch-amerikanischen Architekten und Designer ungarisch-jüdischer Herkunft, der als Erfinder des modernen Stahlrohrmöbels gilt. Auf Fotos ist sie als glückliche, lebenslustige Frau zu sehen. Später, nachdem das Bauhaus seinen Standort von Weimar nach Dessau verlegte, zog auch sie nach Dessau, betreute intensiv die Webwerkstatt, beschäftigte sich mit Färbe- und Produktionstechniken und wurde 1927 Jungmeisterin der Werkstatt.
Der angehende Architekt studierte bei Kandinsky, Klee und Moholy-Nagy.
DESSAU In dieser Zeit war auch bereits Arieh Sharon in Dessau aktiv. Er nahm an Kursen von Wassily Kandinsky, Paul Klee und László Moholy-Nagy teil. Erstmals wurde am Bauhaus auch Architektur gelehrt. Hannes Meyer hatte dieses Fach in der Bauabteilung eingeführt. Zwischen Sharon und Meyer sollte es der Beginn einer intensiven Zusammenarbeit werden, die fast gefährlich wurde. Denn Hannes Meyer zog es nach Moskau, und auch Sharon fand Gefallen an diesem Gedanken.
Mit Gunta Stölzl besuchte er 1928 eine Kunsthochschule in Moskau, kehrte jedoch nach Deutschland zurück. Es sollte sich als kluge Entscheidung erweisen, denn bei allem Aufbruchsstreben bestand auch unmittelbare Gefahr; die Autorin Ursula Muscheler beschreibt in ihrem Buch Das rote Bauhaus diese Zeit als »Geschichte von Hoffnung und Scheitern«.
Arieh Sharon und Gunta Stölzl heirateten 1929. Am 8. Oktober kam ihre Tochter Yael auf die Welt. Nur wenige Wochen später erhielt Sharon das Bauhaus-Diplom. Die Zeiten wurden allerdings politisch immer ungemütlicher, und Sharon hatte als Jude Ausweispapiere aus dem britischen Mandatsgebiet Palästina.
Der Dessauer Stadtrat setzte 1932 alles daran, das Bauhaus zu schließen.
»Die 30er-Jahre waren nicht besonders schön, gerade in Dessau«, sagt Eran Neuman, der die Einzelausstellung zu Arieh Sharon im vergangenen Jahr im Tel-Aviv-Museum kuratierte. »Gerade in Dessau gab es landesweit einen der ersten Bürgermeister der NSDAP, noch bevor Hitler an die Macht kam. Anscheinend ist das oft so in der Geschichte: Wo es die fortschrittlichsten Ideen gibt, sind auch die radikalsten Gegner.« Der Stadtrat setzte 1932 alles daran, das Bauhaus zu schließen.
Es war die Zeit, in der beide, Gunta Stölzl und Arieh Sharon, schon nicht mehr in Dessau tätig waren. Der junge jüdische Architekt reiste 1931 nach Palästina, eigentlich nur, um seine Papiere verlängern zu lassen. Da auch Gunta Stölzl durch ihre Heirat keine deutsche Staatsbürgerin mehr war und daher internen Konflikten am Bauhaus ausgesetzt war, beschloss sie im selben Jahr, das Land zu verlassen. Sie zog mit ihrer Tochter Yael in die Schweiz, wo sie bis zu ihrem Lebensende blieb.
»Wenn man sich das überlegt«, sagt Eran Neuman, »Arieh ging also nur nach Palästina, um sein Visum zu erneuern – und kam nie mehr zurück. Er ließ alles hinter sich, seine Karriere, seine Frau und Tochter. Immerhin, er hatte diesen guten Kontakt zu Hannes Meyer, wurde von ihm sogar eingeladen, am Bauhaus zu lehren. Auch da gibt es einen Brief. Und trotzdem – er kehrt nie mehr zurück.«
KULTURTRANSFER Für Arieh Sharon begann die schaffensreichste Zeit seines Lebens. Er war gut ausgebildet, hatte Erfahrung mit größeren Bauprojekten in Deutschland, die er für Hannes Meyer betreut hatte, und kam in ein Land, das sich im Aufbau befand.
»Der vorhandene und dominierende Stil der Architektur war der Eklektizismus, eine Mischung unterschiedlicher Stile«, erklärt Neuman. Und nicht nur Arieh Sharon hatte die Idee, das zu ändern. Was heute zum Ärger vieler Architekten als Bauhaus-Stil bezeichnet wird, ist korrekt der Internationale Stil – und Arieh Sharon gehört zu dessen Wegbereitern in Israel.
Er vermittelte die neuen Formen des Bauens, publizierte mit Freunden ein Magazin, um den Internationalen Stil in der Öffentlichkeit voranzubringen. »Er war unglaublich aktiv als Designer der neuen Architektur in Israel, er schrieb und publizierte«, sagt Eran Neuman. »Sein Ansatz war es, das Thema aus der Perspektive des Kulturtransfers zu sehen, im grenzüberschreitenden Austausch.«
Sharons Planungsbüro unterstand unmittelbar David Ben Gurion.
Sharon gehört damit zu den prägendsten Bauherren der Moderne in Israel. Eine Ausstellung über ihn im Jahr 2018 wird ihn als »maßgeblich für die Stadtplanung« nicht nur in Tel Aviv bezeichnen. Sein eigenes Planungsbüro unterstand damals unmittelbar dem Staatsgründer David Ben Gurion, der eine Aufgabe für Sharon hatte: einen nationalen Gliederungsplan für das Land zu erstellen.
Es waren Aufgaben einer ganz anderen Dimension als die Angebote vom Bauhaus. »Er verstand damals, wenn er in Tel Aviv bleiben würde, könnte er mehr schaffen und auch mehr bauen. Dort war alles im Wachstum und im Entstehen. Viele Immigranten kamen aus Europa nach Israel. Es wurde also nicht nur Wohnraum benötigt«, erklärt Neuman.
TOCHTER Arieh Sharon sollte im Laufe der kommenden Jahrzehnte Dutzende wichtige Gebäude im Land bauen, darunter Krankenhäuser, Seniorenheime, Bauten für Universitäten, die israelische Zentralbank, das Hauptquartier der Jewish Agency, den Sitz der Zionistischen Weltorganisation, Kinoräume, mehrere große Wohnkomplexe mit Innenhof. Noch immer sind diese Spuren vorhanden.
Auch seine Tochter Yael ist heute stolz, dass mitten in Tel Aviv die karreeförmigen Wohneinheiten noch immer ihren Charme haben.
Von den 4000 Gebäuden im Internationalen Stil in Tel Aviv stammt nur ein Teil von Bauhaus-Absolventen – einer von ihnen war Sharon.
Yael kam im späten Teenageralter nach Tel Aviv, um endlich »einmal den Vater kennenzulernen und in den Ferien zu besuchen«, erzählte sie 2012. Sie blieb damals dort, arbeitete fortan in seinem Büro und wurde für ihren Vater eine wertvolle Mitarbeiterin, Dolmetscherin und enge Vertraute. Bis ins hohe Alter betreute sie seinen Nachlass sowie auch den ihrer Mutter. Sharons Nachlass befindet sich heute im Archiv des Tel-Aviv-Museums.
Die Ehe der beiden wurde 1936 geschieden. Arieh Sharon hatte bald nach seiner Ankunft in Palästina eine neue Beziehung, aus der zwei Söhne, Eldar und Uri, hervorgingen. Yael Aloni lacht, wenn sie von ihrem Halbbruder Uri erzählt. »Nein, er ist kein Architekt geworden, sondern der letzte jüdische Fischer im Hafen von Jaffa.«
KIBBUZ Arieh Sharon baute zeitlebens Wohnraum, darunter auch in etlichen Kibbuzim. Der Gedanke, für Menschen einfaches, bezahlbares Wohnen zu ermöglichen sowie das Leben in einer Gemeinschaft zu gestalten, hat ihn wohl immer motiviert.
Das Erbe der Architekten, deren Biografien und prägenden Stil hat auch Ronny Schüler von der Bauhaus-Universität in Weimar erforscht. Dabei geht es ihm nicht nur um die Architektur, sondern auch um die Mechanismen, die sich damals durchgesetzt haben. Denn »Bauhaus« ist heute ein Label in der Architektur geworden – genau das missfällt jedoch vielen Architekten. »Von den 4000 Gebäuden, die es tatsächlich in Tel Aviv gibt, ist nur ein Teil von Bauhaus-Absolventen errichtet worden«, sagt Schüler.
Einer von ihnen, wenn nicht sogar der bedeutendste, war Arieh Sharon. Auf einer Reise nach Frankreich verstarb er im Juli 1984, vor genau 35 Jahren.