Blass sieht Ohad Ben Ami aus und sehr dünn. Doch auch entschlossen und kämpferisch. So sitzt er im Kapuzenpullover mit Aufdruck des »Familienforums der Geiseln« auf dem Sofa der neuen Wohnung. Sein einstiges Haus im Heimat-Kibbuz Be’eri gibt es nicht mehr. Vor sieben Tagen kam der 56-Jährige aus der Hamas-Gefangenschaft in Gaza frei, genau eine Woche später wendet er sich per Videobotschaft an die israelische Öffentlichkeit auf dem Platz der Geiseln in Tel Aviv.
Spätestens seit den vergangenen zwei Geiselbefreiungen weiß man, dass viele der Botschaften von hier sogar in den Terrortunneln unter dem Gazastreifen ankommen. Diese Bedeutung hoben die meisten der aus der Gefangenschaft zurückgekehrten Menschen hervor.
Or Levy, der zusammen mit Ben Ami freikam, war bereits sechs Tage danach an diesem zentralen Platz. Eigentlich ist es der Vorplatz des Tel Aviv Museums, doch er hat sich in den vergangenen einem Jahr und vier Monaten zu einem Versammlungsort für Angehörige und Unterstützer entwickelt. Jeden Samstag nach dem Ende des Schabbats findet hier eine Kundgebung statt.
Levy kam gegen den Wunsch seiner Ärzte und Familie auf den Platz
Levy, dessen Frau bei dem Massaker der Hamas am 7. Oktober 2023 von Terroristen ermordet wurde, ging entgegen dem Wunsch seiner Ärzte und Familie am vergangenen Freitag auf den Platz, um all jenen seinen großen Dank zu übermitteln, die für ihn gekämpft haben, und an all die Geiseln zu erinnern, die noch »in der Hölle von Gaza« sind. Er sei zu schwach, warnten alle, doch er fühlte, dass er genau dorthin müsse.
Und so stand er an diesem kühlen Wintertag mit zwei Schildern in der Hand auf dem Platz. Auf den Postern Eliya Cohen und Alon Ohel. Zwei junge Israelis, die weiterhin Geiseln sind und in den Tunneln festgehalten werden. Levy war die meiste Zeit mit ihnen zusammen.
Und auch Eli Sharabi vergisst nicht. Er sei in »einer schwierigen körperlichen und mentalen Verfassung«, bestätigte sein Bruder Sharon Sharabi am Samstag bei der regelmäßigen Kundgebung. Eli ließ seinen Dank an die Demonstranten ausrichten. »Wir werden vereint sein, auch wenn unsere gewählten Vertreter verwirrt sind, sagte sein Bruder bei der Kundgebung. »Ich kann sagen, dass die Menschen jetzt stärker sind und ihre Stimme erheben werden – und dass die Befreiung der Geiseln keine Frage von rechts und links ist.«
Ohad Ben Ami: »Man sieht dort, wie sich Menschen langsam verändern. Selbst Menschen, die Vertrauen und Hoffnung hatten, verlieren diese plötzlich.«
Elis Frau Lianne und die Töchter Noiya und Yahel wurden am 7. Oktober in ihrem Haus in Be’eri ermordet, sein Bruder Yossi in der Geiselhaft. Und doch will auch er kämpfen Damit alle – wie er selbst – zurück nach Hause kehren können.
An die Zurückgebliebenen erinnerte am Samstagabend auch Ohad Ben Ami vor Tausenden von Israelis, die gekommen waren, um für die Fortführung des Waffenstillstands- und Geiseldeals zu demonstrieren. »Es gibt keine Zeit mehr«, machte er in seiner Videobotschaft vom selben Tag klar. »Man sieht dort, wie sich Menschen langsam verändern und wie die Zeit sie beeinflusst. Und selbst Menschen, die Vertrauen und Hoffnung hatten, verlieren diese plötzlich.«
»Die Botschaften, die wir (von unseren Entführern) erhielten, lauteten im Wesentlichen: ›Eure Regierung hat euch im Stich gelassen‹, ›wir können euch jederzeit töten‹ oder ››wenn es nach eurer Regierung ginge, hätten wir euch schon vor langer Zeit töten sollen‹«, berichtete die einstige Geisel.
»Und auch wenn wir diese Botschaften nicht glaubten, hat man doch mit der Zeit gesehen, dass dies die Realität ist«, führte Ben Ami aus. Man könne sich in so einer Situation schnell selbst verlieren. Dann sprach er über die Proteste für die Freilassung, von denen er über andere Geiseln oder sogar von den Terroristen erfuhr. »Und was einen über Wasser hält, ist, wenn man plötzlich sieht, dass die Menschen – unsere Menschen – für uns kämpfen.«
Ohad Ben Ami fordert die Israelis auf, auf die Straßen zu gehen
»Es gibt Leute in unserem Land, die sich um uns sorgen, die wollen, dass wir zurückkehren, die verstehen, dass es auch ihnen hätte passieren können«, erzählte Ben Ami von seinen Gedanken während der Gefangenschaft. »Ich bin jemandem wichtig, jemand will mich zurückbringen. Das ist, was uns am Leben gehalten hat.« Dann forderte er die Israelis in einem dringenden Appell auf, auf die Straßen zu gehen und für die Freilassung aller verbleibenden 73 Verschleppten zu demonstrieren. »Denn es stärkt sie und gibt ihnen Kraft.«
Mit emotionalen Worten wandte er sich auch an die zurückgebliebenen Geiseln in Gaza: »Ihr wisst, dass ich euch liebe. Ihr wisst auch, dass es mir schwergefallen ist zu gehen, während ihr dortbleibt. Auch ihr werdet in den nächsten Tagen nach Hause kommen. Bitte bleibt stark!«