Ich hatte mich schon seit Montag seelisch darauf vorbereitet, als die Unruhen in Israel eskalieren. Und dann kommen sie doch völlig unerwartet: die Raketen auf Tel Aviv. Am Dienstagabend schrillen die Sirenen plötzlich ohrenbetäubend, als ich am Computer sitze. Es ist surreal, denn ich höre sie sowohl von draußen als auch durch die Zoom-Veranstaltung, die von jemandem in Tel Aviv veranstaltet wurde.
Ich schnappe mir mein Handy und laufe unter Sirenengeheul ins Treppenhaus. Einen Schutzbunker haben wir nicht, denn wir wohnen in einem 100 Jahre alten Haus im ersten Viertel der Stadt, Newe Zedek. Schutzräume in Wohnungen sind erst seit den 80er-Jahren Pflicht. Die Stiege, ganz aus Beton, gilt als zweitsicherste Unterkunft.
Nach dem zehnten Knall höre ich auf zu zählen. Ich bin beschäftigt mit der Krisenroutine.
Da stehe ich dann klopfenden Herzens im Dunkel. Nach der ersten Sirene folgt ein lauter Knall, dann zwei weitere. Sofort beginnt die nächste Sirene, gefolgt von einer Vielzahl von Explosionen. Ein Warngeheul geht in das nächste über, vermischt von ohrenbetäubendem Knallen. Wieder und wieder. Die Wände vibrieren. Meist stammt das laute Knallen vom Einsatz des Abfangsystems »Eiserne Kuppel«. Das sprengt die Raketen im Flug in die Luft, sodass sie keinen Schaden am Boden anrichten können.
Nach dem zehnten Knall höre ich auf zu zählen. Ich bin beschäftigt mit der Krisenroutine. Die kennt jeder Israeli aus dem Effeff: erstens in den Schutzraum oder das Treppenhaus rennen, zweitens per WhatsApp Familie und Freunde fragen, ob es ihnen gut geht, drittens Nachrichten lesen, um zu sehen, ob und wo Raketen eingeschlagen sind.
Hat man Familie im Ausland, wie ich, teilt man der natürlich mit, dass »soweit alles in Ordnung« ist und man sich an einem sicheren Ort befindet. Die meisten Israelis sind Nachrichten-Junkies. Das Geschehen macht einen dazu.
Es war der Sommer 2006, sie war fünf Jahre alt, gerade aus dem Kindergarten.
Wie ich im Treppenhaus stehe und es über mir ohne Unterlass knallt, versuche ich, meine Tochter Dana zu erreichen. Sie hat erst vor drei Wochen ihren Armeedienst beendet und jobbt jetzt in einem Restaurant. Ich weiß nicht, ob es da einen Bunker gibt. Ich mache mir Sorgen, denn sie antwortet nicht. Aus Sekunden werden Minuten.
Mitten im Raketenhagel habe ich ein Déjà-vu. Ich denke daran, wie ich mit Dana auf dem Arm über ein Feld gehastet bin, um in einen Schutzraum zu gelangen. Es war der Sommer 2006, sie war fünf Jahre alt, gerade aus dem Kindergarten.
Wir waren bei Freunden im Norden zu Besuch. An diesem Abend begann der zweite Libanonkrieg – und der erste Krieg meines Lebens. Als ich rannte, hörte ich das Zischen einer Rakete, die irgendwo in der Nähe einschlug. Ich war zutiefst geschockt und hatte Angst um mein und das Leben meiner Tochter.
»Ich bin okay, Mami.« Vor Erleichterung zittere ich.
Wir verbrachten damals die Nacht im Sicherheitsraum. Die Hisbollah schickte ohne Unterlass Raketen. Der Boden, auf dem wir lagen, wackelte beängstigend. Dana weinte sich in meinem Arm in den Schlaf. Am nächsten Tag raste ich mit dem Auto nach Tel Aviv, packte ein paar Sachen in den Koffer und fuhr weiter zum Flughafen. Mit der nächsten Maschine brachte ich mein Kind ins sichere Deutschland.
Daran denke ich, als ich im Treppenhaus stehe. Jetzt ist Dana 20, hat die israelische Armee und einige Kriege hinter sich. Dann, fünf bange Minuten später, ihre Antwort: »Ich bin okay, Mami.« Vor Erleichterung zittere ich.
Am späten Abend, als sie zu Hause ist, erzählt sie mir, dass gerade, als sie im Restaurant gekellnert hat, der Alarm losschrillte. Die Gäste, etwa hundert, seien in den Schutzraum gelaufen. Im Bunker verteilte der Restauranteigentümer das kalt gewordene Roast Beef als Häppchen.
Doch die Israelis brauchen diese Prise Humor, um über den Irrsinn des Alltags hinwegzukommen.
Als die Sirenen eine halbe Stunde später verstummten, seien die meisten Besucher zurück an die Tische gegangen, hätten ihre mittlerweile ebenso kalten Speisen aufgegessen und höflich nach der Rechnung gefragt. Andere bestellten sich ein Glas Wein oder auch zwei und lehnten sich in ihren Stühlen zurück.
In Tel Aviv ist bei jedem Raketenbeschuss eine Portion Galgenhumor dabei. Als die ersten Warnungen der Hamas die Runde machten, dass Tel Aviv angegriffen werden soll, schreiben junge Städter in den sozialen Netzwerken über »Verhaltensregeln« beim Angriff. »Americano wegwerfen und ins Treppenhaus laufen«, schreibt einer. Worauf ein anderer kontert: »Wir sind doch nicht in Sderot, Du kannst den Americano in Ruhe austrinken.« Natürlich mit einem mächtigen Seitenhieb auf die Lebenslust in der Metropole am Mittelmeer.
Mittlerweile lache ich, wenn ich höre, das Schlimmste an den Raketen auf Tel Aviv sei, dass der Restaurant-Lieferservice dann nicht funktioniert.
Menschen, die nicht hier leben, mag diese Einstellung merkwürdig vorkommen. Es scheint paradox, dass man unter dem Schatten der ständigen Bedrohung lebt, immer wieder Zerstörung und Tod drohen – und man darüber Witze reißt. Doch die Israelis brauchen diese Prise Humor, um über den Irrsinn des Alltags hinwegzukommen. Damit sie sich am nächsten oder übernächsten Tag wieder um Schule, Haushalt und ihren Job kümmern können, als wäre nichts geschehen.
Auch ich hatte lange Schwierigkeiten, mich mit dieser Attitüde anzufreunden. Mittlerweile lache ich, wenn ich höre, das Schlimmste an den Raketen auf Tel Aviv sei, dass der Restaurant-Lieferservice dann nicht funktioniert. Der Humor zeigt mir, dass auch hier das Leben weitergeht – mit oder ohne Raketen.
Sabine Brandes ist Israel-Korrespondentin der Jüdischen Allgemeinen.