Analyse

Das Spinnennetz der Terrortunnel

Foto: Flash 90 2021

Wenn Israel nun mit Bodentruppen in den Gazastreifen einrückt, ist eine große Gefahr für die Soldaten unsichtbar: das Tunnel-System der Hamas. Unter Grund erstreckt es sich durch das dicht besiedelte Küstengebiet, ist Rückzugsort für die Terroristen, Versteck für ihre Waffen und vermutlich der Ort, an dem die aus Israel verschleppten Geiseln gefangen gehalten werden.

»Es ist, als würde man die Straße entlanggehen und darauf warten, ins Gesicht geschlagen zu werden«, beschreibt John Spencer, pensionierter Major der US-Armee und Professor am Modern War Institute in West Point, die Situation und stetige Wachsamkeit vor dem Hinterhalt. Die Extremisten hätten Zeit gehabt, sich zu überlegen, wo sie auf die vorrückenden Truppen warten wollen. »Und es gibt Millionen versteckter Orte, wo sie sein können«, sagt Spencer. »Du kannst sie nicht sehen, aber sie können dich sehen.«

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Der Kampf in und um Tunnel zieht sich durch die Kriegsgeschichte, von der römischen Belagerung der antiken griechischen Stadt Ambracia bis hin zum Widerstand der ukrainischen Kämpfer im Azovstal-Werk in Mariupol im vergangenen Jahr. Für die angreifenden Truppen gehören Tunnelkämpfe zu den schwierigsten überhaupt. Ein entschlossener Gegner in einem Tunnel- oder Höhlensystem kann sich aussuchen, wo der Kampf beginnt, und es gibt zahlreiche Möglichkeiten für Hinterhalte.

Die Räumung und Sprengung der Tunnel im Gazastreifen ist für Israel jedoch entscheidend, wenn die Hamas zerschlagen werden soll. Kämpfe in den dicht bewohnten Stadtvierteln und eine Verlagerung in den Untergrund könnte die israelischen Streitkräfte allerdings einiger ihrer technologischen Vorteile berauben und der Hamas sowohl unter als auch über der Erde in die Hände spielen.

SPEZIALEINHEIT Das Tunnelsystem im Gazastreifen gilt als besonders dicht. Israel nennt es »Metro«. Die Hamas baute das Netz seit 2007 aus, nachdem Israel und Ägypten mit einer Blockade auf die Kontrollübernahme der Hamas in dem Palästinensergebiet reagiert hatten. Damit sollten Waffen und andere Waren aus Ägypten eingeschmuggelt werden können. Die meisten der Tunnel über die Grenze zu Ägypten hat das Nachbarland inzwischen blockiert, doch es wird davon ausgegangen, dass die Hamas über ein umfangreiches unterirdisches Netzwerk über den gesamten Gazastreifen hinweg verfügt. Hamas-Chef Jihia al-Sinwar sprach vor zwei Jahren von rund 500 Kilometern an Tunneln – in einem Gebiet nicht viel größer als München.

Seit 2004 konzentriert sich die israelische Spezialeinheit Samur auf das Aufspüren und Zerstören von Tunneln, manchmal mit ferngesteuerten Robotern. Diejenigen, die in die Tunnel gehen, sind unter anderem mit Masken und Sauerstoff ausgerüstet. Immer wieder hat Israel Tunnel aus der Luft bombardiert oder am Boden mit Sprengstoff zerstört. Doch um der Hamas das Genick zu brechen, müssen die Kämpfer aus ihrem Untergrund-Netzwerk vertrieben werden.

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Die Tunnel hätten eine völlig desorientierende Wirkung, beschreibt der ehemalige Soldat Ariel Bernstein einen Einsatz im Gazastreifen vor neun Jahren. Hamas-Kämpfer seien wie aus dem Nichts aufgetaucht und hätten angegriffen. »Es war, als ob ich gegen Gespenster kämpfte«, sagt er. »Man sieht sie nicht.«

Was alles umso schwerer macht, sind die aus Israel verschleppten Geiseln. Die Berichte einer vergangene Woche freigelassenen Frau erhärten den Verdacht, dass Verschleppte in den Tunneln festgehalten werden. Die 85-Jährige beschrieb, dass sie in ein Tunnelsystem gebracht worden sei, das »wie ein Spinnennetz« aussah.

KLAUSTROPHOBE BEDINGUNGEN Die Räumung der Tunnel werde vermutlich ein »langsamer, methodischer Prozess« sein, lautet die Einschätzung des New Yorker Analyse- und Forschungszentrums Soufan Center. Dabei müssten sich die israelischen Truppen auf Roboter und nachrichtendienstliche Informationen verlassen, um die Tunnel und ihre potenziellen Fallen zu kartieren. Es sei wahrscheinlich, dass die Hamas »viel Zeit in die Planung der nächsten Phase investiert und das Schlachtfeld in Gaza umfassend vorbereitet hat«, heißt es in einem Papier des Soufan Centers.

Unter solchen Bedingungen würden viele der technologischen Vorteile der israelischen Streitkräfte wegbrechen, warnt Daphné Richemond-Barak von der nördlich von Tel Aviv gelegenen Reichman-Universität. Die Soldaten müssten sich auf klaustrophobische Bedingungen einstellen. »Wenn man einen Tunnel betritt, ist es sehr eng, es ist dunkel und es ist feucht, und man verliert sehr schnell das Gefühl für Raum und Zeit«, sagt Richemond-Barak, Autorin eines Buches über unterirdische Kriegsführung.

»Man hat diese Angst vor dem Unbekannten, wer kommt um die Ecke?«, erklärt sie. Man frage sich, wo die Hinterhalte lauerten und habe im Kopf: »Niemand kann kommen und dich retten.« Israelische Soldaten könnten zudem in Gefechte verwickelt werden, bei denen Geiseln ums Leben kommen könnten. Auch könnten bei der Detonation von Sprengfallen sowohl Soldaten als auch Geiseln lebendig begraben werden.

Doch trotz der Risiken sei es nötig, die Tunnel zu zerstören, damit Israel seine militärischen Ziele erreichen könne, sagt die Expertin. »Es gibt eine Aufgabe, die erledigt werden muss«, erklärt sie, »und sie wird jetzt erledigt werden.«

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