Noch vor einer Woche hatten Politiker der regierenden Likud-Partei sie verächtlich als »Sushi-Esser« und »Wasserpfeifenraucher« bezeichnet – symbolisch für eine junge, hedonistische Generation von Israelis, die sich für nichts als sich selbst interessierte und politisch nicht mobilisiert werden konnte. Das entpuppte sich als Fehleinschätzung. In der größten Demonstration seit Jahren protestierten rund 300.000 Israelis Samstagabend gegen die Wirtschaftspolitik Benjamin Netanjahus. Alle Schattierungen der israelischen Gesellschaft marschierten in den Straßen Tel Avivs: Junge, säkulare Familien, Religiöse, Großeltern und Studenten, Juden und Araber.
Die Forderungen auf der Demonstration waren divers: Hier wollten Vegetarier einen Fleischbann durchsetzen, dort protestierten Bewohner eines armen Vororts gegen die Gentrifizierung ihres Stadtviertels. Doch immer wieder skandierten Zehntausende gemeinsam die Parole: »Das Volk fordert soziale Gerechtigkeit.« Sie haben es satt, dass die Schere zwischen Arm und Reich in Israel immer größer wird.
Konzept Nach den Revolutionen in der arabischen Welt entdeckt Israels gebeutelte Mittelschicht ihre Macht und fordert sie ein. »Die Arbeitsaufteilung in Israel ist einfach«, erklärt Politikprofessor Dan Schüftan von der Haifa-Universität ein altes Diktum: »Ein Drittel forscht und treibt die Wirtschaft voran, ein Drittel dient in der Armee und in der Reserve, und ein Drittel zahlt die Steuern. Das Problem dabei ist nur: Es ist dasselbe Drittel.«
Dazu ist man nun nicht mehr bereit. Noch hat die Führung der Proteste kein einheitliches Konzept vorgelegt. Sie fordert sozialen Wohnungsbau und einen Abbau regressiver Steuern, während Experten empfehlen, die verbleibenden Monopole im Land zu zerschlagen.
Komitee Er sei sich »der Schwierigkeiten bewusst, die das hohe Preisniveau in Israel verursacht«, gab Premier Benjamin Netanjahu am Sonntag nach den überraschend großen Demos zu. Statt die Protestler zu diskreditieren, will er sie für sich gewinnen. Er schöpft Mut daraus, dass nur ein kleiner Teil der Demonstranten seinen Rücktritt verlangt. Die meisten wollen von ihm, dass er ihren Forderungen nachkommt. Die Proteste seien deswegen »ein Ausdruck des Vertrauens der Bevölkerung«, meinte Finanzminister Juval Steinitz hoffnungsvoll. Tatsächlich haben die Demonstrationen keine politische Stoßrichtung: Keiner der Oppositionsparteien gelang es, aus dem weiten Unmut Profit zu schlagen.
»Wir werden zwar nicht allen Forderungen nachkommen können. Aber wir werden alle anhören«, versprach der Premier. Umweltminister Gilad Erdan zeigte seine Solidarität mit den Demonstranten, indem er die Aussage des Bürgermeisters von vo
riger Woche kritisierte: »Ich esse auch gern Sushi«, outete sich Erdan. Doch kulinarische Geständnisse werden die erhitzten Ge-
müter kaum beruhigen. Am Sonntag ernannte Netanjahu fast das halbe Kabinett zu einem Komitee unter der Führung des Finanzministers, das bis Anfang September Lösungsvorschläge unterbreiten soll. Nach dem Ort der Zelt-Proteste (Rothschild Boulevard) sprechen die Medien schon vom »Rothschild-Team«.
Netanjahu versprach, bürokratische Hürden abzureißen, 20.000 Sozialbauwohnungen zu errichten und Preisnachlässe im öffentlichen Verkehr einzuführen. Die anfänglichen Reformen wurden von der Bevölkerung bisher als unzureichend abgelehnt. Die Organisatoren der Proteste planen für Anfang September einen »Marsch der Millionen«, sollte Netanjahu sein Angebot nicht verbessern.