Es ist ein höchst umstrittenes Thema. Viele haben dazu eine Meinung, nicht alle verstehen, was es konkret bedeutet: die von Premierminister Benjamin Netanjahu mehrfach angekündigte unilaterale Entscheidung, über Teile des Westjordanlandes das israelische Zivilrecht zu verhängen.
Das Vorhaben bezieht sich auf 22,3 Prozent des Gebietes der sogenannten »Area C«, das derzeit unter israelischer Kontrolle ist. Konkret wurde Netanjahu bislang lediglich zum Gebiet des Jordanvortales, das sich im Osten des Palästinensergebietes entlang der Grenze zu Jordanien bis zum Toten Meer zieht. Welche Blöcke jüdischer Siedlungen eventuell hinzukommen sollen, soll gemeinsam mit der US-Regierung entschieden werden.
Konkret wurde Netanjahu bislang lediglich zum Gebiet des Jordanvortales.
Die neue Regierung unter dem wiedergewählten Netanjahu scheint die Annexion zur Realität machen zu wollen, solange US-Präsident Donald Trump noch sicher im Amt ist. Keine Koalition zuvor hatte Derartiges durch die Knesset gebracht. Im Januar 2014 stellten sich die Oppositionsparteien, darunter die Awoda, gegen einen solchen Vorschlag.
ABKOMMEN Seitdem hat sich viel geändert: Die Awoda ist Teil der Regierungskoalition in Jerusalem, und mit Trump ist ein Präsident im Weißen Haus, der mit einem einseitigen Schritt Israels kein Problem hat. US-Außenminister Mike Pompeo sagte bei seiner Visite in Jerusalem: »In Sachen Annexion wird ultimativ Israel Entscheidungen treffen. Wir werden eng mit ihnen zusammenarbeiten und unsere Meinung hinter verschlossenen Türen mitteilen.«
Nach dieser Botschaft kündigte Palästinenserpräsident Mahmud Abbas alle Verbindungen mit Israel auf, inklusive der von beiden Seiten viel gepriesenen Sicherheitskooperation. Der jordanische König Abdullah ließ wissen, dass er »die Abkommen mit Israel im Falle einer Annexion überprüfen« müsse. Damit bezieht sich der Monarch auf den Friedensvertrag zwischen beiden Nationen. Der einstige Chef des Inlandsgeheimdienstes, Yoram Cohen, befürchtet, dass die gesamte Region destabilisiert werden könnte.
Im April 2020 veröffentlichte das Israel Democracy Institute eine Umfrage zu diesem Thema. Darin befürworteten 52 Prozent der jüdischen Israelis eine Annexion, 28 Prozent der Befragten sprachen sich dagegen aus, die restlichen haben keine Meinung oder wollen sich nicht äußern.
ZIVILRECHT Auch bei Akademikern gibt es grundverschiedene Auffassungen. Professor Avi Bell von der juristischen Fakultät an der Bar-Ilan-Universität will nicht von »Annexion« sprechen, sondern bezeichnet es als »Anwendung des israelischen Zivilrechts, auf das Israel ein Recht hat«. Natürlich gebe es einen palästinensischen Anspruch und einen israelischen, »doch die israelische Regierung sieht dieses Gebiet nicht als palästinensisches Territorium an«.
Für ihn ist es »objektive Wahrheit, dass entsprechend des internationalen Rechts Nicht-Staaten keinen Anspruch auf Territorium haben, wohl aber deren Bevölkerung auf Selbstbestimmung«. Ziel der Regierung, so Bell, sei es, »keine große Anzahl von Palästinensern in den betreffenden Gegenden zu haben«. Allerdings, so geben Menschenrechtsgruppen an, leben derzeit in verschiedenen Dörfern rund 4400 Palästinenser, deren Status dann unklar wäre.
Die Gebiete A und B, die bereits heute schon teilweise oder ganz unter palästinensischer Kontrolle sind, blieben unberührt. Entsprechend dem Trump-Plan soll es einen Palästinenserstaat auf dem verbleibenden Gebiet des Westjordanlandes geben.
FRIEDEN Bell hält die Behauptung nicht für zutreffend, dass die Anwendung des israelischen Rechts notwendig eine neue palästinensische Gewaltwelle, das Ende des Friedens mit den Nachbarn oder Abstrafungen seitens internationaler Institutionen oder Teilen der westlichen Welt, etwa der Europäischen Union, nach sich ziehen muss.
»Egal, ob Israel diese Pläne in die Tat umsetzt oder nicht, es ist immer der Gefahr von diplomatischen Disputen, palästinensischer Gewalt oder dem Ende der Friedensverträge ausgesetzt. Darauf muss man vorbereitet sein. Tatsache ist jedoch, dass im Nahen Osten alle Abkommen instabil sind.«
Der Frieden mit Jordanien hält bereits seit 25, der mit Ägypten sogar seit 31 Jahren. Der Leiter der Abteilung Nahost im Harry S. Truman Research Institute for the Advancement of Peace an der Hebräischen Universität Jerusalem, Ronni Shaked, hält es für Wahnsinn, diese Abkommen zu gefährden. Frieden und die gute Nachbarschaft mit Jordanien dienten als bedeutender Sicherheitspuffer in der fragilen Region.
SICHERHEIT Seit 1967 habe Israel keine strategische Politik für dieses Territorium gehabt, erst 1993 sei mit dem Oslo-Abkommen die Vision einer Zweistaatenlösung geschaffen worden. Das sei vom Großteil der Welt akzeptiert worden, inklusive den USA, argumentiert Shaked. »Doch die politische Rechte spricht über das Land Israel, nicht über den Staat oder das Volk. Es geht ihm um Territorium.«
Das, befürchtet er, könnte viel schwerwiegendere Folgen haben als einen vorübergehen Gewaltausbruch: »Es ist die Absage an eine Zweistaatenlösung, denn die Palästinenser und die arabischen Staaten würden das niemals hinnehmen.« Eine Annexion hält der Nahostexperte für eine Handlung »gegen den Staat Israel«.
Er meint, dass die Palästinenser in jedem Fall weiterkämpfen würden. »Das daraus resultierende Sicherheitsproblem für Israel wird sich vom Westjordanland auch auf Gaza ausbreiten. Und wer sagt, dass die Hisbollah nicht ebenfalls mitmischt?« Auch die Annäherung Israels an moderate arabische Staaten wäre gefährdet.
BEZIEHUNGEN Mindestens ebenso schwer wiegt seiner Meinung nach die Problematik für die internationalen Beziehungen. »Israel wäre ein Besatzer, und das spricht im 21. Jahrhundert gegen sämtliche Wertvorstellungen der freien Welt.«
Dabei, betont Shaked, spreche er ausschließlich für die israelische Seite. »Denn das ist es, was mich bewegt. Mein Vater und mein Großvater wollten in einem jüdischen Staat leben, sie waren Zionisten. Wir werden anschließend in einem binationalen Staat leben. Es macht mich sehr traurig, das zu sagen, aber es wäre das Ende des Zionismus und des jüdischen Staates.«