Sorgfalt und Wahrheit, Verantwortung und Ausgewogenheit, Anstand und Korrektheit – dies sind einige der klugen Gebote, mit denen der Deutsche Presserat ethische Standards für die journalistische Arbeit festlegt. Seriöse Medien sollten sich an den Pressekodex halten, der Presserat prüft Beschwerden sorgsam. »Niemand darf wegen seiner Zugehörigkeit zu einer ethnischen, religiösen, sozialen oder nationalen Gruppe diskriminiert werden.«
Nur – was geschieht, wenn über eine ganze Nation in deren Existenzkampf seit dem 7. Oktober 2023 mit erstaunlicher und oft erschütternder Schieflage berichtet wird? »Spiegel online« veröffentlichte am 26. September einen Artikel mit der Überschrift »USA, Frankreich und Deutschland ringen um Waffenruhe im Libanon – Israel bombardiert weiter«.
Durchatmen. An diesem Tag liegt wie an jedem Tag der vergangenen Monate Nordisrael unter Raketenbeschuss der proiranischen Milizen. Wann je haben wir die Headline gelesen: »USA, Frankreich und Deutschland ringen um Waffenruhe in Israel – Hisbollah bombardiert weiter«?
Israels Armee hatte die Zivilisten aufgerufen, bestimmte Orte, in denen Hisbollah-Waffen lagerten, zu verlassen. Die Schlagzeilen dazu: »Israel setzt Angriffe fort. G7-Außenminister drängen auf Deeskalation« (»Die Zeit«), »Krankenhäuser überlastet – Libanon meldet Hunderte Tote nach israelischen Angriffen« (»Tagesschau«).
Das Gleiche gilt für den Süden Israels, den die Hamas seit Jahren unter Raketenfeuer setzt. Nach dem Massaker des 7. Oktober feuerte die Hamas ununterbrochen weiter, aus Wohnhäusern, Schulen und Krankenhäusern, der Fokus der Berichterstattung fast aller Medien lag allein auf Israels Angriffen in Gaza und auf dem Leid der Zivilbevölkerung.
Doch »Spiegel online« – das Leitmedium, in dem die Täter-Opfer-Umkehr und israelfeindliche Narrative nicht die Ausnahme, sondern die Regel sind – hat zum Jahrestag des Massakers auch einen der besten und differenziertesten Beiträge publiziert, Sascha Lobos Essay »Fünf bittere Wahrheiten über Israel«. Eine rühmliche Ausnahme im Meer der Ja-aberei vieler Publikationen zum 7. Oktober.
Es gibt auch Medien, die andere Narrative transportieren
Es gilt hier nicht, sämtliche größeren Presseorgane anzuklagen ob ihrer Einseitigkeit, es geht um jene überall herrschende antiisraelische und mithin auch antijüdische Stimmung, die viele Medien transportieren, mit Beispielen unterstreichen und weitergeben. Davon gibt es Ausnahmen: die »FAZ«, die »NZZ« und die Publikationen des Springer-Konzerns wie »BILD« und »Die Welt«.
»Israel droht mit Selbstverteidigung« –diese Schlagzeile zeugt von Doppelzüngigkeit.
Um besondere Ausgewogenheit müssen sich die öffentlich-rechtlichen Anbieter bemühen. Kritik gibt es diesbezüglich vor allem an den Hauptnachrichtensendungen von ARD und ZDF. Am 7. Oktober sendete Das Erste die »tagesthemen« aus Tel Aviv. Eine passende und gute Entscheidung. Im Anschluss lief jedoch eine 44-minütige Dokumentation, an der sich die subtile Israelfeindlichkeit besonders deutlich erkennen lässt. Nur sieben Minuten widmen die Autoren dem Massaker – am Jahrestag des schlimmsten Pogroms seit der Schoa.
Die grausamen Vergehen an Israelis werden nicht erwähnt
Vergewaltigungen? Geschlachtete Kinder? Kein Wort. Lediglich eine Psychologin warnt vor der Möglichkeit, dass weibliche Geiseln schwanger werden könnten. Das Leid in Gaza nimmt den größten Raum ein: Familien, die in Zelten leben, ein verwundetes Kind, dessen Bein nicht zusammenwächst, die schlechte Wasser- und Gasversorgung.
Die Bildsprache ist eindeutig und einseitig. Ein Israeli, dessen Cousine Geisel ist, kommt zwar immer wieder zu Wort, aber die Bilder und Geschichten aus Gaza emotionalisieren viel stärker.
Der Subtext lautet, wie so häufig: Die Israelis sind Täter, nicht Opfer.
Warum die Palästinenser dort ihre Verwandten und Häuser verlieren, erschließt sich nicht. Zudem kein Wort zu den Zehntausenden israelischen Binnenflüchtlingen, zu den Vertriebenen innerhalb Israels, zu den Traumatisierungen, die so viele Menschen in Israel belasten. Nichts.
Subtext der Doku über den 7. Oktober: Die Israelis sind Täter, nicht Opfer. Und Netanjahu ist schuld, dass die Geiseln nicht nach Hause kommen. Damit bewegt sich diese Dokumentation im Mainstream der Wahrnehmungen einer zunehmend israelfeindlichen Gesellschaft. Sie ist nur ein Beispiel von vielen. »Israel droht mit Selbstverteidigung«, diese »Focus«-Schlagzeile bringt alle Doppelzüngigkeit in der Nahost-Berichterstattung auf den Punkt. Es grenzt an Desinformation – bewusste oder unbewusste.
Wo bleibt die Solidarität mit den lebenden Juden?
Verteidigen? Mit Stärke? Das geht zu weit. Die Heidelberger Autorin Ramona Ambs begegnet dem Phänomen mit Galgenhumor. »Tote Juden sind halt einfach viel unkomplizierter zu handhaben. Man kann an ihren Gräbern so schöne Reden halten. Reden, in denen man sie vermisst. Reden, in denen man seine moralische Läuterung mit anschließendem Kranzabwurf beteuert. Tote Juden – das ist quasi gelebte Deeskalation.«
Zum Holocaustgedenktag am 27. Januar wird der toten Juden gedacht in staatstragenden Reden. Und die Solidarität mit den Lebenden? Das mantraartige »Nie wieder« verkommt in Anbetracht der »Israelkritik« zur hohlen Phrase. Da tröstet nur ein Bonmot von Michael Wuliger, dem einstigen Feuilletonredakteur dieser Zeitung: »Lieber schlechte Presse als schöne Nachrufe«.
Die Autorin ist freie Journalistin und war viele Jahre als Redakteurin für den Hörfunk in der ARD tätig.