Jerusalem

Das Gilo-Projekt

Weiterbau von 1.100 Wohnungen: Bagger und Lastkräne drehen sich wieder im Osten der israelischen Hauptstadt. Foto: Flash 90

Auf den Straßen von Gilo verstehen die Menschen die Welt nicht mehr. Aber »ehrlich gesagt, verstehen wir sie nun sogar besser. Wir haben nichts anderes von den meisten Ländern erwartet«, sagt ein Mann mit ärgerlichem Gesicht, während er Einkäufe in sein Auto hievt. Er lebt in dem Ort, an dem sich die Geister scheiden.

»Es geht nicht um die Realität, sondern hauptsächlich um Israel-Schelte.« Seitdem der israelische Premierminister Benjamin Netanjahu kurz vor Rosch Haschana verkündete, es würden in Gilo 1.100 neue Wohnungen gebaut, reißt die internationale Kritik an Jerusalem nicht ab.

Kaum war Netanjahu aus New York zurückgekehrt, wo er vor den Vereinten Nationen geworben hatte, den unilateral erklärten Palästinenserstaat nicht anzuerkennen und stattdessen die Friedensgespräche wieder auf den Weg zu bringen, präsentierte er der Öffentlichkeit das »Neujahrsgeschenk« des Wohnungsbaus. Als solches hatte es das Baukomitee der Stadt bezeichnet, weil vor allem bezahlbarer Wohnraum für junge Familien geschaffen werden soll.

Diplomatie Die USA und Deutschland zeigten sich sofort äußerst verstimmt. Von Enttäuschung und Entfremdung war aus Berlin und Washington zu hören. Auch die Palästinenser verurteilten den Schritt umgehend. Unterhändler Saeb Erekat sprach davon, dass die Israelis »den Vorschlag des Quartetts 1.100 Mal mit Nein beantwortet hätten«.

Har Gilo, wie der Ort genauer heißt, ist ein jüdisches Viertel im Südwesten Jerusalems. Fakt ist, dass es lediglich zehn Autominuten vom Zentrum der Stadt entfernt ist. Fakt ist jedoch auch, dass es jenseits der Grünen Grenze im arabischen Teil liegt und somit vom Großteil der Welt als Siedlung betrachtet wird. Nicht nur Politiker und die Bewohner selbst sehen das anders. Auch der Großteil der israelischen Bevölkerung würde Gilo kaum so bezeichnen.

»Wenn man von Siedlungen spricht, denkt man an irgendwelche Hütten jüdischer Fanatiker auf Bergen tief im Westjordanland«, meint Michal Barak, die in Tel Aviv lebt und zu Besuch bei ihrer Familie in Gilo ist. »Oder meinetwegen auch an Kiriat Arba oder Ariel. Aber doch nicht an dieses Viertel. Das ist ganz klar ein Teil von Jerusalem.«

Nach der Verärgerung auf internationalem Parkett bemühte man sich in Israel schnell um Schadensbegrenzung. Ausländische Journalisten wurden eingeladen, gemeinsam mit dem stellvertretenden Außenminister Danny Ayalon »durch das Jerusalemer Viertel Gilo« zu spazieren. Auf einem Aussichtspunkt erklärte Ayalon, dass Gilo in jedem zukünftigen Friedensabkommen Teil Jerusalems und Teil Israels sein werde. »Eine Tatsache, die nie infrage stand.«

wohneinheiten »Wir reden hier über einen Vorort mit 40.000 Einwohnern, die Bedürfnisse haben. Damit es für alle Einwohner Platz zum Leben gibt, muss eine verantwortungsbewusste Regierung sicherstellen, dass weitere Wohneinheiten für die Bevölkerung gebaut werden«, sagte er.

Auf Nachfragen der Journalisten stellte er klar: »So wie Sie von uns erwarten, dass wir die Bautätigkeit in vorrangig arabischen Nachbarschaften genehmigen, so sollten Sie nicht von uns erwarten, dass wir die Bautätigkeit in vorrangig jüdischen Nachbarschaften stoppen.«

Er fügte hinzu, dass die Bekanntgabe der städtischen Baupläne, die auch Gilo enthalten, nicht auf politische Reaktionen abgezielt habe, sondern einzig und allein auf die Bedürfnisse der Einwohner reagieren wollte. Das drittgrößte Viertel Jerusalems sei ein integraler Bestandteil der Stadt, und es sei unverständlich, warum jedes neue Gebäude eine Angelegenheit internationalen Aufsehens werde.

Bautätigkeit »Die Palästinenser nutzen die Bautätigkeit und die Grüne Linie, um die Weltöffentlichkeit von der zentralen Angelegenheit – den Verhandlungen – abzulenken«, meinte Ayalon. Bezug nehmend auf den Vorschlag des Nahost-Quartetts, dem Israel zugestimmt hat, sagte er: »Die Palästinenser tragen systematisch Vorbedingungen zusammen, die nur die Chance auf eine echte Lösung des Konflikts verringern.«

Naomi Tzur, stellvertretende Bürgermeisterin, fügte hinzu, dass Gilo einer der Teile Jerusalems sei, der sich am besten entwickelt. »Gilo ist keine Siedlung oder ein separater Teil der Stadt, es ist Teil eines blühenden urbanen Organismus, der nicht stillstehen oder seine Bautätigkeit stoppen kann, bis beide Seiten ihre Gespräche wiederaufnehmen, was sie bereits seit 30 Jahren machen sollen.«

Der erste Mann der Stadt, Bürgermeister Nir Barkat, unterstrich am Dienstag die Bedeutung einer andauernden Bautätigkeit in seiner Stadt. »Es ist die einzige Lösung für die Wohnungskrise.« Auch Ministerpräsident Netanjahu äußerte sich in einem Interview mit der Tageszeitung Jerusalem Post: »Das Gilo-Projekt ist nicht neu. Wir planen in Jerusalem. Wir bauen in Jerusalem. So wie es israelische Regierungen seit 44 Jahren tun, seit dem Ende des Krieges von 1967. Wir bauen in jüdischen Stadtteilen, die Araber bauen in arabischen Vororten, das ist der Weg dieser Stadt und ihre Entwicklung, die für ihre jüdischen und nichtjüdischen Einwohner gleich ist.«

Entscheidung »Jeder Friedensplan, der in den vergangenen 18 Jahren auf den Tisch gelegt wurde, sah vor, dass Gilo ein integraler Bestandteil des jüdischen Jerusalems bleibt«, ließ Netanjahus Sprecher Mark Regev wissen. »Es gibt keinen Widerspruch zwischen dieser Entscheidung, die nur eine Planungsentscheidung ist, und dem Streben der Regierung nach Frieden durch das Prinzip der zwei Staaten für zwei Völker.«

Der Mann vor dem Supermarkt in Gilo trägt Jeans, ein T-Shirt und Flip-Flops an den Füßen. Weder hat er auf dem Hinterkopf eine gehäkelte Kippa, noch baumelt eine Kalaschnikow um seine Schultern. Er sieht sich als ganz normaler Israeli, der in einer ganz normalen Gegend von Jerusalem wohnt. In Gilo. Der Großteil der Welt indes sieht das anders.

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