Sie fürchten, es ist die allerletzte Chance, ihre Liebsten noch lebend in die Arme zu schließen: der Gipfel für die Freilassung der Geiseln und einen Waffenstillstand in Gaza, der am Donnerstag in der katarischen Hauptstadt Doha beginnt. Umso verzweifelter ist die Forderung der Angehörigen der von der Hamas Gekidnappten an die beteiligten Parteien, einen Deal durchzubringen. Die Verhandlungen sind ein Versuch, die zehn Monate andauernden Kämpfe zwischen Israel und der Hamas zu beenden und 115 Geiseln nach Hause zu bringen.
Die Aktivisten und Familien marschieren an diesem Tag in Tel Aviv, Jerusalem, Haifa und vielen anderen Orten Israels, um dem Nachdruck zu verleihen. Vor dem Hauptquartier der Likud-Partei von Premierminister Benjamin Netanjahu halten sie ein Banner mit den Worten in die Höhe: »Lebendig entführt, dem Tod überlassen. Ein Abkommen. Jetzt!«.
Im Hintergrund drängen vor allem die USA unter Präsident Joe Biden darauf, dass die Region nach mehr als zehn Monaten des blutigen Krieges befriedet wird, während sich Israel und die Hamas gegenseitig beschuldigen, vorherige Gespräche zum Scheitern gebracht zu haben. Ein Erfolg bei den Gesprächen in Doha könnte zudem Angriffe auf Israel verhindern, ein Misserfolg könnte sie auslösen, meint das Weiße Haus.
USA wollen umfassenden Krieg in Nahost verhindern
Washington, das Kriegsschiffe, U-Boote und Kampfflugzeuge in die Region entsandte, um Israel zu verteidigen, hofft, durch ein Waffenstillstandsabkommen einen umfassenden Krieg im Nahost noch verhindern zu können. Denn die Ergebnisse in Doha seien an die Vergeltungsschläge des Regimes in Teheran und der Terrororganisation Hisbollah im Libanon gegen Israel geknüpft, meinen die USA.
Neben der Forderung der USA, Ägyptens und Katars, dass Israel und die Hamas an den runden Tisch zurückkehren, warnten die Vermittlerländer bereits, im Falle eines Scheiterns eigene Lösungsvorschläge zu präsentieren.
Während Israel seine Teilnahme zusagte, erklärte die Hamas, sie werde nicht dabei sein, allerdings sind indirekte Gespräche auch über Vermittler möglich. Die Pressesprecherin des Weißen Hauses, Karine Jean-Pierre, merkte dazu an: »Es gibt immer politisches Getue. Wir sehen das ständig im Vorfeld von Gesprächen.«
Israel hat eine Liste mit Namen von 33 Geiseln vorgelegt, die in der ersten Phase des Waffenstillstandsabkommens freigelassen werden müssen. Dazu gehören Frauen, Kinder, alte und kranke Menschen. Erst wenn diese Gekidnappten frei sind, sollen die nächsten Schritte eingeleitet werden.
Das israelische Verhandlungsteam wird von Mossad-Chef David Barnea geleitet. Mit dabei sind auch der Leiter des Inlandsgeheimdienstes Schin Bet, Ronen Bar, und der Gesandte für Geiselnahmen Nitzan Alon. CIA-Direktor Bill Burns und der US-Nahost-Gesandte Brett McGurk werden Washington bei den Gesprächen vertreten, die vom katarischen Premierminister Scheich Mohammed bin Abdulrahman Al Thani einberufen wurden. Auch der ägyptische Geheimdienstchef Abbas Kamel wird in Doha erwartet.
Präsenz der israelischen Armee in Gaza strittig
Netanjahu wird seit Monaten von Angehörigen der Geiseln und zunehmend auch seinen eigenen Unterhändlern dafür kritisiert, dass er seinem Team in früheren Gesprächen ein zu enges Mandat erteilt hatte. Eine Quelle im israelischen Verhandlungsteam sagte am Mittwoch, dass er nun bei einigen der wesentlichen Streitpunkte einen größeren Spielraum für die Verhandlungen gelassen habe.
Einer der strittigsten Punkte scheint nach wie vor die Präsenz der israelischen Armee in Gaza zu sein. Während Jerusalem darauf besteht, eine militärische Präsenz im Philadelphi-Korridor und entlang wichtiger Routen in Gaza aufrechtzuerhalten, um zu verhindern, dass bewaffnete Hamas-Mitglieder in den Norden Gazas zurückkehren, will die Terrororganisation den vollständigen Rückzug der IDF aus dem Gazastreifen. Gleichfalls hat keine der beiden Seiten eine Einigung ausgeschlossen.
Am Mittwoch hatten die Botschafter der USA, Großbritanniens und Deutschlands in Tel Aviv sofortige Maßnahmen für einen Waffenstillstand und eine Geiselbefreiung gefordert. Sie unterstrichen, dass diese Woche für das Schicksal der Geiseln entscheidend sein könnte. Viele fürchten zunehmend um ihr Leben. Der britische Botschafter Simon Walters warnte auch, weitere Verzögerungen könnten die Spannungen erheblich verschärfen. Sie forderten alle Parteien auf, »nun ungehindert zu handeln«.
Israel könne mit Sicherheitsherausforderungen umgehen
Nach Angaben in israelischen Medien habe sich Netanjahu vor der Abreise nach Katar mit den Verhandlungsteilnehmern getroffen. Das Verteidigungsestablishment, darunter auch Verteidigungsminister Joav Gallant, geht davon aus, dass eine Einigung erzielt werden könne. Die Zugeständnisse, die bereits vor zwei Monaten vereinbart wurden, seien ein fairer Preis für die Möglichkeit, die Geiselnahmen zu beenden und die Wunden in der israelischen Gesellschaft zu heilen, argumentieren sie. Mit den Sicherheitsherausforderungen durch die Freilassung von Terroristen »kann Israel umgehen«.
Neben der möglichen Weigerung der Hamas, die Konditionen zu akzeptieren, liegt einer der hauptsächlichen Stolpersteine für eine Einigung in Jerusalem. Denn Netanjahus rechtsextreme Koalitionspartner haben sich gegen jeglichen Deal mit der Hamas ausgesprochen und drohen immer wieder mit einem Ausstieg aus der Regierung. Das würde zu Neuwahlen führen, was der Premierminister unbedingt verhindern will. Währenddessen unterstützen die Opposition und auch die ultraorthodoxen Regierungsmitglieder weitgehend eine Einigung für ein Ende der Kämpfe und die Rückkehr der Geiseln.
Auch eine Gruppe von mehr als 100 US-Rabbinern sprach zu Beginn der Verhandlungen von der Notwendigkeit eines Deals. Sie fordert Premierminister Netanjahu auf, jetzt einer Vereinbarung zuzustimmen, weil die Geiselfreilassung »der Schlüssel zur Heilung des jüdischen Volkes« sei.