Viele Städter schlafen noch lange nicht. Am späten Abend ist Jerusalem hell erleuchtet. Um Laternenpfosten sind rote, gelbe und blaue Lichterketten gewickelt, an öffentlichen Gebäuden strahlen Glühbirnen und farbenfrohe Projektionen. Gläubige Juden spazieren als Familien oder in Grüppchen durch die Straßen ihrer Stadt und tun das, was in den Tagen vor Rosch Haschana Tradition ist: Slichot – Buße.
Maayan Cohen sitzt gemeinsam mit Freundinnen vor der alten Stadtmauer im Gras neben dem Jaffa-Tor. Cohen stammt aus New York und lernt für ein Jahr in einer Jeschiwa in der Altstadt. Es ist fast 23 Uhr, und die jungen Frauen erzählen, beten und singen, von Müdigkeit keine Spur. »In diesen Tagen herrscht eine unglaubliche Atmosphäre in der Stadt. Hier kann man förmlich spüren, wie weit die Tore des Himmels geöffnet sind, damit Gott unsere Gebete und Lieder hört«, schwärmt die 19-Jährige. »Chatanu lefaneicha, rachem aleinu« (Wir haben vor dir gesündigt, erbarme dich unser), klingt es durch den warmen Sommerabend.
magie Die Traditionen der sefardischen und aschkenasischen Juden sind oft unterschiedlich, für Erstere beginnt das Aufsagen der Slichot (Bußgebete) bereits am zweiten Tag des letzten Monats im Jahr, dem Elul. Für die Aschkenasen gilt, dass jedes Gebet in dieser Zeit mindestens vier Mal gesprochen werden muss. Cohen und ihre Freundinnen machen sich auf den Weg in Richtung Altstadt. »Wir gehen zur Kotel, um am höchsten Heiligtum der Juden zu beten und um Vergebung zu bitten. Das ist der absolute Höhepunkt eines jeden Abends. Alles daran ist einfach magisch.«
Während die jungen Frauen in Richtung Frauenbereich gehen, stehen in der Nähe der Kotel auf der anderen Seite zehn Männer in dunklen Hosen, weißen Hemden und schwarzen Kippot und unterhalten sich. Auf einmal fassen sie sich an den Armen, bilden einen Kreis und besingen das, was sie in diesen Tagen am meisten herbeisehnen: »Maschiach – Maschiach – Maschiach …«
Ein paar Gehminuten entfernt in der Davidszitadelle stehen Menschen aus aller Welt am Kassenhäuschen Schlange, um die letzte Sound-and-Light-Show des Abends anzusehen, in der das Leben von König David ausführlich nacherzählt wird. Eli Ilan ist Tourguide. Er führt Besucher jedoch in eine andere, stillere Ecke des Museums: das Kischle. Dieses Gebäude, von den Osmanen als Soldatenunterkunft und später von den Briten während der Mandatszeit als Gefängnis benutzt, birgt viele Erinnerungen an Slichot.
Schmuggel »Die Briten haben das jüdische Leben in Jerusalem mit Argusaugen beobachtet und versucht, es einzuschränken«, erklärt Ilan. Doch das ist ihnen nicht gelungen. »Dafür haben die Juden Schofare an die Kotel geschmuggelt, was die Mandatsherren strikt verboten hatten. Es war den Juden sehr wichtig, das Schofar an Rosch Haschana und Jom Kippur zu blasen, um an die Verbindung mit Gott zu erinnern und zu mahnen, dass sich jeder Mensch verbessern sollte.« Wurden sie dabei entdeckt, steckten die Briten sie hier in Zellen. Die Überreste der eisernen Stäbe sind noch in den Decken zu sehen. Auf der linken Seite saßen die jüdischen Häftlinge, auf der rechten die arabischen.
Doch es geht in der Zeit des Monats Elul nicht ausschließlich um die Buße und innere Einkehr. »Es ist eine ganz besondere Zeit des Jahres«, findet Jerusalem-Reiseführer Eli Parnassa. »Es geht um Wohltätigkeit, Gebete und Buße. All dies sollten wir in diesem letzten Monat ausgiebig praktizieren, um uns zu besseren Menschen und das nächste Jahr zu einem besseren Jahr zu machen. Es ist unsere Chance, tief in unser Inneres zu schauen, ›Cheschbon Nefesch‹ zu machen, also Rechenschaft abzulegen und uns zu erneuern.«
Freunde In einem der ersten Viertel der Stadt außerhalb der alten Mauern gibt er das erste Beispiel für »Zedaka«, was Parnassa mit »Taten für die Gerechtigkeit« übersetzt. Ein heute hübsch renoviertes Haus im Viertel Nachalat Schiwa beherbergte vor rund 150 Jahren eine der ersten sieben Familien, die sich außerhalb der schmutzigen und beengten Verhältnisse der Altstadt ansiedelten.
Es war der Initiator Yosef Rivlin, der sich hier niederließ, Urgroßvater des heutigen Staatspräsidenten Reuven Rivlin. »Bei dem Bau des Viertels, das nach den sieben Familien benannt ist, ging es darum, das Leben der Menschen in Jerusalem positiver zu gestalten. Hier gab es ausreichend Platz, Bäder, Hygiene und Gesundheit. Ein hervorragendes Beispiel dafür, wie man etwas besser machen kann.«
Heute ist in dem Haus das Museum »Friends of Zion« (Freunde Zions) untergebracht. Auch dieser Ort sei exemplarisch für gute Taten und eine Botschaft der Liebe, meint Parnassa. Die christlichen Unterstützer eines jüdischen Staates, die Helfer im Holocaust, die Juden retteten, sie alle bekommen hier eine Ehrung. Es gibt Ausstellungen zu den Gründern, Träumern, Visionären, den Mutigen und Lichtern in der Dunkelheit: alle christliche Zionisten. Übrigens kann jeder ein »Freund Zions« werden, indem er sich online unter www.fozmuseum.com registriert.
Der israelische Präsident Schimon Peres war der Schirmherr des Museums. Er ist mittlerweile verstorben. Doch noch heute erwärmt seine Videobotschaft in der Ausstellung die Herzen der Besucher: »Es gibt nichts Großartigeres als die Freundschaft zwischen Menschen.« Ein Satz wie gemacht für die Zeit des Elul.