Interview

»Brücken zum Feind«

Efraim Halevy Foto: Gregor Zielke

Herr Halevy, 1996 wurden Sie Israels Botschafter bei der Europäischen Union (EU). Worin unterscheidet sich Europa heute von dem Europa von damals?
Heute erleben wir ein anderes Europa als vor 20 Jahren. Als ich damals zum Botschafter berufen wurde, war noch nicht absehbar, wie die neuen Herausforderungen nach Ende des Kalten Krieges aussehen würden. Der Zerfall der Sowjetunion lag erst wenige Jahre zurück. Westeuropa begann gerade mit der Erweiterung. Es war auch die Zeit, als Europa eine zunehmende Rolle im Nahen Osten zu spielen begann. Damals war Europa sich noch nicht der islamistischen Aspekte bewusst, die viele Einwanderer aus muslimischen Ländern mit sich brachten.

Wie ist die EU damals mit dem Thema »islamistischer Terror« umgegangen?
Europa wollte sich mit dem Problem des islamistischen Extremismus nicht auseinandersetzen – jedenfalls nicht auf europäischer oder internationaler Ebene. Das Thema sollte vielmehr im Hoheitsbereich der jeweiligen Staaten verbleiben. Es gab keinerlei innereuropäische Koordination. Das Problem wurde als »innenpolitische Angelegenheit« der einzelnen Mitgliedsstaaten betrachtet, nicht als europäische. Bis vor Kurzem.

Arbeiten die europäischen Länder heute enger zusammen?
Heute leben wir in einer veränderten Welt. »Islamistischer Extremismus« ist zum europäischen Problem geworden, ist nicht mehr auf einzelne Länder begrenzt. Es ist schmerzvoll für die Europäer, an diesem Punkt angekommen zu sein, denn sie hätten darauf lieber verzichtet.

Bereits 2003 haben Sie einen »dritten Weltkrieg« mit militanten Islamisten vorausgesagt. Worauf stützen Sie Ihre Annahmen?
Dieser Krieg begann bereits 1998 mit den ersten zeitgleich geplanten Anschlägen auf amerikanische Botschaften in Daressalam und Nairobi. Das war der Auftakt zu diesem dritten Weltkrieg, gefolgt 2000 vom Anschlag auf ein amerikanisches Schiff vor der Küste Jemens. Die große Kriegserklärung kam dann am 11. September 2001.

Wie lange wird dieser Krieg dauern?
Es ist zu früh, das zu sagen. Auch wenn zwischen 2001 und jetzt fast 15 Jahre liegen – es ist schwer abzuschätzen, wann dieser Krieg vorbei sein wird. Es besteht kein Zweifel daran, dass ISIS besiegt werden wird. Die Frage ist nur, wie lange das dauern wird, und was getan werden muss, um dieses Ziel zu erreichen. Dazu gibt es keine Alternative. Darin liegt jedoch auch ein Vorteil: Man muss nicht lang und breit diskutieren. Europäer, Amerikaner und Russen wissen, woran sie sind. Denn: Es gibt keine Möglichkeit, ISIS zu verstehen, Friedenverträge und Waffenstillstandsabkommen zu schließen oder etwa Gemeinsamkeiten auf kultureller Ebene zu finden. All das scheidet als Möglichkeit aus.

Wie muss man also vorgehen?
Um ISIS zu besiegen, muss man sie zerstören – auf ähnliche Weise wie das Nazi-Regime in Deutschland. Das Nazi-Regime wurde nicht besiegt – es wurde zerstört. Es hat bedingungslos kapituliert. Also muss man ISIS aus der Luft bekämpfen und am Boden, mit Verbündeten vor Ort. Und wenn all das nichts nützt, muss man eben selbst hineingehen.

Auch Deutschland?
Dass der Bundestag dem Syrien-Einsatz zugestimmt hat, ist ein mutiger Schritt. Die Kanzlerin ist eine starke Führungspersönlichkeit. Sie versteht, worum es geht. Insofern denke ich, Deutschland ist gesegnet mit seiner Regierungsspitze, die in der Lage ist, über notwendige Schritte zu entscheiden.

Wie ordnen Sie Israels heftige Reaktion auf die kürzlich erlassene EU-Kennzeichnungspflicht von israelischen Waren ein?
Ich habe oft erlebt, wie die EU versucht hat, unter bestimmten Umständen diskriminierende Schritte gegen israelische Waren einzuführen. Mit einigen dieser Versuche hatte ich als israelischer EU-Botschafter zu tun. Das war nicht leicht. Ich denke aber, dass wir das Thema in Israel zu hoch hängen. Das dient nicht unseren Interessen. Wir müssen Israels Interessen als Ganzes sehen, nicht allein aus der moralischen Perspektive. Daher denke ich, wir hätten besser daran getan, dem nicht so viel Beachtung zu schenken. Wir können dafür Lösungen finden, wie wir das in der Vergangenheit auch schon getan haben. Wenn wir jetzt Kampagnen starten, die Europäer als Antisemiten bezeichnen und allerlei Vergleiche zur Nazizeit anstellen, schießen wir ein Eigentor.

Wodurch zeichnen sich die Beziehungen zwischen Israel und der EU bislang aus?
Durch gute Zusammenarbeit im wirtschaftlichen Bereich zum Beispiel. Zudem haben wir ein Assoziationsabkommen mit der EU – und auch sehr wichtig – seit 1998 ein Wissenschafts- und Technologieabkommen, an deren Zustandekommen ich aktiv beteiligt war. Ich habe damals im Europäischen Parlament dafür gekämpft, dass Israel als erstes nichteuropäisches Land Teil davon wird.

Buchstäblich über Nacht tauschten Sie die Diplomatentätigkeit gegen den Job als Chef des israelischen Auslandsgeheimdienstes Mossad ein. Was haben Sie empfunden, als man Sie auf die Stelle berief?
Damit hatte ich nicht gerechnet. Doch kurz zuvor hatte die Maschal-Affäre das Ansehen des Dienstes erschüttert. Der Mossad war in einer Krise, ebenso wie die Beziehungen zu Jordanien. Drei Jahre zuvor hatte ich als Rabins persönlicher Gesandter eine Schlüsselrolle bei den Friedensverhandlungen mit Jordanien gespielt – König Hussein vertraute mir. Und tatsächlich, es gelang uns, das Problem zu lösen. Als dann kurz darauf mein Vorgänger zurücktrat, übernahm ich das Amt als Mossad-Direktor. Ich diente unter drei Premierministern – Netanjahu, Barak und Scharon, viereinhalb Jahre lang.

Wie sieht der ganz gewöhnliche Arbeitstag eines Geheimdienstchefs aus?
Als Mossad-Direktor beschäftigt man sich rund um die Uhr mit Angelegenheiten, die über Leben oder Tod entscheiden. Tag für Tag, Nacht für Nacht. Es gibt keinen geregelten Tagesablauf. Man ist persönlich verantwortlich für die Menschen, die im Verborgenen agieren und ihr Leben riskieren, auch nachts um drei Uhr. Man ist sich ständig dessen bewusst, dass man mit einer einzigen Fehlentscheidung diplomatischen Schaden anrichten könnte. Und man setzt sich mit seinen Leuten auseinander – alle sehr engagiert, sehr mutig, sehr kreativ. Einige von ihnen muss man hin und wieder auf Linie bringen – Disziplin ist lebenswichtig in einer Organisation mit so viel Verantwortung.

Worin unterscheiden sich die Jobs als Botschafter und Chefspion?
Ein Drittel meiner Zeit verbrachte ich außerhalb des Landes, in verschiedenen geheimen Missionen, immer wieder auch im direkten Auftrag meines jeweiligen Premierministers. Das ist eine völlig andere Arbeit als die, auch sehr wichtige, eines Botschafters – bei der man morgens aufsteht, ins Büro geht, E-Mails verschickt, Leute trifft.

Konnten Sie Ihr diplomatisches Geschick auch als Mossad-Chef einbringen?
Ja. Aber das habe ich auch vorher schon – als persönlicher Gesandter und Vertrauter von drei Premierministern mit guten Kontakten zu Schlüsselfiguren weltweit, unter anderen zum jordanischen König Hussein.

Wie sind Sie persönlich damit zurechtgekommen, eine solch große Verantwortung zu tragen?
Ich bin damit klargekommen. Beruf und Privatleben unter einen Hut zu bringen, war schwierig. Ich habe dem Mossad 40 Jahre lang gedient – meine Frau und meine Kinder haben einen hohen Preis bezahlt. Jetzt versuche ich, es wieder gutzumachen.

Kann man nach 46 Jahren im Öffentlichen Dienst so einfach abschalten?
Nein. Nach meinem Ausscheiden war ich weiterhin aktiv – erst als Sicherheitsberater des Premierministers, später als Chef des Shasha Centre für Strategische Studien an der Hebräischen Universität Jerusalem. Heute halte ich weltweit Vorträge, berate, mische mich in gesellschaftliche Debatten ein und engagiere mich für eine Reform des Konversionsprozesses.

Was war Ihr größter Erfolg als Mossad-Chef?
Über die meisten Erfolge darf ich nicht sprechen – über einen hingegen schon: als Kommandeur der Operation Moses, als wir die äthiopischen Juden aus dem Sudan ausgeflogen haben. Die Operation war ein Wagnis – doch wir haben nicht ein Leben verloren.

Gibt es bittere Momente, Erfahrungen, bei denen Sie rückblickend sagen – das hätte ich anders machen müssen?
Über bittere Momente möchte ich nicht sprechen.

Sie gelten als jemand mit hervorragenden Kontakten zur arabischen Welt. Wie kann man die Beziehungen verbessern?
Es war immer meine Mission, Möglichkeiten zu eröffnen – Kontaktmöglichkeiten, die Politiker in Israel dazu nutzen konnten, Brücken zum Feind zu bauen. Auch andere MossadMitarbeiter haben das getan. Frieden zu schließen, ist Aufgabe der Politiker.

Sie haben 2011 behauptet, die Bedrohung durch »radikalisierte Ultraorthodoxe« sei eine »größere Gefahr für Israel als Ahmadinedschad«. Was haben Sie damit gemeint?
Eine Grundvoraussetzung für Israels Stabilität ist innere Einheit. Ich denke, sie kann nur erreicht werden, indem die Lasten auf alle Teile der Gesellschaft gleich verteilt werden – im Sinne des Verständnisses füreinander und gegenseitiger Zugeständnisse. Wir wollen die charedische Gemeinschaft integrieren, wirtschaftlich wie sozial. Dafür machen wir Kompromisse. Aber das müssen sie auch, etwa bezüglich ihres Verhaltens in der Öffentlichkeit. Doch das fehlt. Denn für die Ultrareligiösen ist alles absolut. Man macht keine Zugeständnisse. Der Glaube an Gott ist absolut. Wenn es um Gott geht, ist alles absolut. Darin sehe ich eine Gefahr für Israel, für unsere Einheit, und deshalb ein größeres Problem als den Iran. Israel ist unzerstörbar. Aber man kann Israel schwächen – dieser Fakt schwächt Israel mehr als alles andere.

Sie wurden 1934 in London geboren. Inwieweit hat Ihre Herkunft die Wahl Ihres Lebensweges beeinflusst?
Ich habe meine Eltern sehr geliebt. Mein Vater war Lehrer an einer jüdischen Schule in England, meine Mutter war Bibliothekarin an der Hochschule für Wissenschaft des Judentums in Berlin. Sie wurde in Lettland geboren, sprach fließend Deutsch und Russisch. Beide waren religiös. Auf meine Berufswahl hatten sie keinen Einfluss, aber eines haben sie mir mitgegeben: meinem Land gut zu dienen. Sie waren Zionisten alten Stils: »Stell keine Fragen, tu, was du tun musst.« In diesem Sinne habe ich eine sehr gute Erziehung genossen.

Vor 50 Jahren nahmen Israel und Deutschland diplomatische Beziehungen auf. Wie schwierig war es, einander 1965 auf Geheimdienst-Ebene zu begegnen?
Das ist sehr komplex. 1963 nahm ich als junger Offizier an einem Treffen zwischen Mossad und BND in Deutschland teil, mit Reinhard Gehlen, dem ersten BND-Präsidenten. Er hatte unter den Nazis Karriere gemacht. Das ist etwas, das ich nie vergessen werde. Denn wie macht man Konversation mit ehemaligen Nazis? Ich denke oft daran, wenn ich nach Berlin reise. Gehlen hatte nichts mit der Schoa zu tun, aber er war Teil des Systems gewesen. Meine Verwandten wurden in der Schoa ermordet. Das ist etwas, das man niemals ausgleichen kann. Man muss aber einen Weg finden, eine Balance zwischen Bewahrung der eigenen moralischen Integrität und den Erfordernissen der Gegenwart. Das kann man öffentlich oft nur schwer erklären, denn man steht unter dem Einfluss des Moments – Terroranschläge, Tod, Blut, Messer, Explosionen. Ja. Aber es gibt auch andere Elemente, die wir uns bewusst machen müssen.

Welche Schlüsse ziehen Sie daraus – auch für die künftige Arbeit der Geheimdienste?
Wir müssen Wege zum Dialog finden. Das ist die große Lektion. Denn am Ende gibt es keinen Ersatz für Dialog, wenn man die Menschheit erhalten will. Darin sehe ich auch die Funktion von Geheimdiensten heute – als Werkzeug, Dinge voranzutreiben. Auch wenn der Himmel draußen sehr düster ist.

Mit dem früheren Mossad-Chef sprach Katharina Schmidt-Hirschfelder.

Efraim Halevy wurde 1934 in London geboren. Von 1996 bis 1998 war er Israels EU-Botschafter, 1998 bis 2002 Direktor des israelischen Auslandsgeheimdienstes Mossad, danach Sicherheitsberater und Institutsleiter, u.a. des Harry-Triguboff-Instituts Jerusalem. Er gilt als Wegbereiter des israelisch-jordanischen Friedensvertrages von 1994. 2006 erschienen seine Memoiren »Man in the Shadows«.

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