Am Donnerstagmittag schwebt ein Mann im Korb einer Hubarbeitsbühne über Berlin-Mitte und sprüht in rund 16 Metern Höhe die Worte »Bring them home« auf eine Häuserwand in der Oranienburger Straße. Wenige Augenblicke später fügt er ein »now« hinzu, als einziges Wort in grellem Rot.
Unter dem Schriftzug füllt das Bild eines Jungen die riesige Wand, der sich, gefangen in lebensfeindlicher Dunkelheit, an seinen Teddy klammert. In der anderen Hand hält er die Schnur eines rosa Ballons, der oben in einen blauen Himmel steigt, mit Schafwölkchen und Smiley-Sonne.
»Ich bin ein Soldat, dessen Waffe die Kunst ist«, sagt der Graffiti-Künstler Benzi Brofman. Der 39-Jährige stammt aus Migdal HaEmek, östlich von Haifa, und gilt vielen als Israels Banksy - wenn er auch nicht dessen politische Sicht teilt.
Soldat der Kunst
Benzi geht es immer um die Menschen. Seine Porträts von Eminem über Queen Elizabeth II., Israels Sänger Arik Einstein und die iranische Freiheits-Ikone Mahsa Amini, haben ihn international berühmt gemacht und sind genauso in Haifa und Eilat wie in Barcelona, Wien und London zu finden.
Seit dem 7. Oktober sind es ausschließlich Porträts von Menschen, die während des Hamas-Massakers ermordet wurden, und von denen, die nach Gaza verschleppt wurden. Für die steht auch der Junge, der auf der Häuserwand kauert.
Benzi ist das erste Mal in seinem Leben in Berlin. Auch wenn er das, was in Israel passiert ist, immer noch nicht fassen könne, »so wie alle anderen Israelis auch«, habe er begriffen, dass er wichtige Dinge tun müsse, sagt er. »Deshalb bin ich hier!«
»Dieser Junge seid ihr«
Er steht vor seinem Graffiti und spricht in Kameras. Farbverschmiert und mit tiefem Schmerz im Gesicht erzählt Benzi, dass er am 6. Oktober beim »Nature Party Festival« im Kibbuz Re’im für ein Live-Graffiti-Act eingeladen war. Er erzählt davon, wie schön die Atmosphäre dort war, wie fröhlich die Menschen. Am Nachmittag sei er nachhause gefahren, alles war ruhig. Am nächsten Morgen habe er dann erfahren, dass fast alle, die er gerade getroffen hatte, nicht mehr am Leben oder verschleppt sind.
Er habe angefangen, diese Menschen in Porträts zu verewigen. Das erste Graffiti sei in Haifa entstanden. Kurz darauf habe ihn die israelische Botschaft in London gebeten, mit seinen Graffitis auf die schreckliche Situation der Geiseln aufmerksam zu machen. Danach habe Berlin sich gemeldet.
Mit dem Schriftzug ist das Graffiti in Berlin vollendet. Der Junge auf der Berliner Häuserwand sieht, dass die Schnur des Ballons gerissen ist, und dass er allein im Dunkel zurückbleibt. Niemand kann dieses Bild betrachten, ohne den Schmerz zu fühlen. Menschen sind stehengeblieben und schauen nach oben. Auch der israelische Botschafter, Ron Prosor, ist gekommen.
»Dieser Junge bin ich«, sagt Benzi. »Dieser Junge seid ihr, er ist die ganze Welt, und wir müssen erreichen, dass er wieder in sein Leben zurückkehren kann. Dass alle Geiseln wieder in ihre Leben zurückkehren können!« Seine Hoffnung sei, so sagt Benzi vor seinem bisher größten Graffiti, »dass wir die Schnur des Ballons wieder zusammenfügen und dass der Hintergrund des Jungen wieder blau wird, so blau wie der Himmel über ihm.«