Ihre Arbeit sei ernst, sagt Ruth Ur und lächelt in die Kamera. Sie sei eben so bei Fotos, sagt sie im Treppenhaus der Synagoge in einem Hinterhof an der Berliner Joachimsthalerstraße. Als Vertreterin der israelischen Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem in Deutschland weiß die Britin um die Tragweite ihrer Aufgabe.
Nach vielen Umzügen in alle Welt fühle sie sich nun in Berlin gut aufgehoben, auch mit ihrem Schreibtisch im Gemeindehaus, vor dem rund um die Uhr die Polizei steht. Der Satz mit dem Lächeln beschreibt Urs Lebenseinstellung.
KUDAMM Dann führt sie in ein noch fast leeres Büro mit Seitenblick auf den Kurfürstendamm. »Diese Räume haben Potenzial«, sagte sie mit ironischem Unterton. Ein paar Tische, eine Couch - von hier aus will Ruth Ur als Direktorin des Freundeskreises von Yad Vashem in den deutschsprachigen Ländern die bedeutendste Institution zur Erforschung des millionenfachen Mordes an den Juden noch bekannter machen.
Fünf große deutsche Unternehmen haben bereits Unterstützung in Millionenhöhe zugesagt.
Zu Urs ersten Projekten gehört eine Ausstellung des Fotografen Martin Schoeller mit Porträts von Holocaust-Überlebenden, die gerade in der Zeche Zollverein in Essen läuft und dann weltweit touren soll.
Muss Yad Vashem, das jedes Jahr mehr als eine Million Besucher zählt, eigentlich noch bekannter werden? Auf jeden Fall, sagt Ur. Zwar arbeitet diese weltbekannte Institution etwa mit dem Berliner Holocaust-Mahnmal zusammen. Aber die Gedenk- und Forschungsstätte soll noch stärker in das öffentliche Bewusstsein rücken.
KONZERNE Fünf große deutsche Unternehmen haben bereits Unterstützung in Millionenhöhe zugesagt. Ein erster Schritt, vor allem auch mit Blick auf die Wirkung solcher Gesten auf die Zehntausenden Mitarbeiter der Konzerne. Jeder Mensch sollte einmal in Yad Vashem gewesen sein, sagt Ur.
Mit der Gründung von Yad Vashem (»Ein Denkmal, ein Name«) hatte der Staat Israel 1953 die Erinnerung an die ermordeten Juden und die Erforschung jedes einzelnen Schicksals zur Staatsräson erklärt. »Die permanente, hartnäckige Suche nach jedem einzelnen Namen ist unsere Aufgabe«, sagt Ur. »Wenn nötig, drehen wir dafür jeden Stein um.« Deutschlands Hilfe sei bei der Zusammensetzung »dieses gigantischen Puzzles« entscheidend.
»Die Geschichte fordert uns immer wieder auf, Fragen zu stellen, die wir in unserem Alltag eher verdrängen«, sagt Ruth Ur.
Zwar werde die Zahl der Überlebenden - und damit der Zeugen - immer kleiner. »Aber die Geschichte fordert uns immer wieder auf, Fragen zu stellen, die wir in unserem Alltag eher verdrängen.« Auch vor dem Hintergrund der jüngsten antisemitischen Attacken sieht Ur eine wichtige Rolle für Yad Vashem. »Es geht zunächst darum, Empathie zu wecken - und erst in zweiter Linie um Wissen.«
ISRAELHASS Ja, oft äußere sich Judenfeindschaft auch über die einseitige Kritik an Israels Politik oder in den Sympathien für die laut Deutschem Bundestag antisemitische und israelfeindliche Boykottbewegung BDS. »Ich habe Freunde, die so denken. Denen sagte ich immer: Kommt nach Israel und macht Euch ein eigenes Bild!«
Sie wolle Brücken bauen, sagt Ur. Als Kulturdiplomatin beim British Council - das britische Pendant zum deutschen Goethe-Institut - vertrat sie das Vereinigte Königreich in Krisenregionen rund um das Mittelmeer. Die 1974 geborene Cambridge-Absolventin arbeitete unter anderem in Ägypten während des Arabischen Frühlings, im Südsudan, in der Türkei und Israel. Sie verstand sich als »Problemlöserin«.
»Wenn ich als Kind etwas nicht verstehen sollte«, erinnert sich Ur, »sprachen sie untereinander auf Jiddisch«.
Ur war Kuratorin des britischen Pavillons während der Architekturbiennale in Venedig 2002 und organisierte Ausstellungen auf der ganzen Welt. 2017 schaffte sie es als Direktorin des britisch-indischen Kulturjahres, ein Lichtkunstwerk auf den Buckingham Palace projizieren zu lassen - mit royaler Erlaubnis. Und jetzt sitzt sie in Berlin und überlegt, wie die Jerusalemer Gedenkstätte bekannter werden kann.
JECKEN Der Kunsthistorikerin war Deutschland nie fremd. Ihre Eltern wanderten in den 60er Jahren nach Großbritannien aus. Die Nachfahren osteuropäischer Juden fühlten sich seit ihrer Jugend in Tel Aviv der Kultur der »Jecken«, der deutsch-jüdischen Einwanderer, eng verbunden. »Meine Eltern bewundern die deutsche Kultur«, berichtet sie. »Wenn ich als Kind etwas nicht verstehen sollte, sprachen sie untereinander auf Jiddisch.« Inzwischen leben Vater und Mutter wieder in Israel.
Neben einem israelischen und einem britischen besitzt Ur auch einen deutschen Pass. Seit einigen Jahren lebt sie mit ihrem Mann und ihren drei Kindern in Berlin. Auch sie habe schon immer eine Faszination für Deutschland und die deutsch-jüdische Kultur gehabt. Im Studium hatte sie sich mit der deutschen Kunst des 20. Jahrhunderts befasst.
Dann erzählt sie, wie sie zum Antrag auf ein Stipendium in Großbritannien einmal gefragt wurde, warum eine Jüdin sich ausgerechnet mit deutscher Kunst befassen wolle. Ruth Ur schüttelt den Kopf. Die Frage kann sie bis heute nicht verstehen.